Das „Pruzzenland“ hat viele Zuwanderungen und Auswanderungen erlebt – über die Jahrhunderte hinweg bis heute. Beispiele sind die mittelalterliche Siedlungsbewegung, der Zuzug der Salzburger im 18. Jahrhundert oder die Ost-West-Wanderung seit dem 19. Jahrhundert. Bis heute wirkungsmächtig sind die Folgen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

 

Überwundene Konflikte

In der historischen Beurteilung der älteren Migrationen hat sich in den letzten 20, 30 Jahren viel verändert. So stand die mittelalterliche Siedlungsbewegung lange Zeit im Ruf, einer „Germanisierung“ des östlichen Mitteleuropas Vorschub zu leisten. Heute wird dieses Geschehen stärker in einen europäischen Zusammenhang eingebettet: Die Siedler, die keineswegs nur aus dem deutschen Reich kamen, suchten für sich und ihre Angehörigen nach besseren Lebenschancen und bewirkten einen Erfahrungs- und Wissenstransfer, der sich in neuen Ideen für Landwirtschaft und Handwerk, Handel und Architektur zeigte. Auch die Migrationsgeschichten der Salzburger und der Ost-West-Wanderer sind von früheren konfessionellen oder ethnischen Überhöhungen befreit. So gelassen wie auf die mittelalterliche und (früh-)neuzeitliche Geschichte blicken wir auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts meist nicht.

„Heiße“ Zeitgeschichte

Das bis heute viel diskutierte, große Migrationsthema des „Pruzzenlandes“ sind die Zwangsmigrationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es gab insbesondere in den Jahren 1944/45 zahlreiche Todesopfer, nationale Grenzen wurden neu gezogen und die Erinnerung an die frühere Vergangenheit der Region wurde oft rigoros verdrängt. Deutsche, polnische, litauische und russische Erfahrungen und Perspektiven treffen hier unmittelbar aufeinander.

In Deutschland war die Erzählung von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung häufig in eine Untergangsstimmung gehüllt und der Blick richtete sich nahezu ausschließlich auf das Schicksal der deutschen Bevölkerung. Das hat sich seit den 1990er Jahren, als das Thema öffentlichkeitswirksam in den unterschiedlichsten Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Internet, etwa YouTube) diskutiert wurde, etwas verändert. In den Medien wird die Geschichte von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung einerseits mit starken Emotionen vermittelt, andererseits nimmt man nun auch das Schicksal anderer Bevölkerungsgruppen im östlichen Mitteleuropa wie der Polen, Weißrussen, Ukrainer oder Litauer wahr, die seit 1944/45 ebenfalls höchst unfreiwillig ihre Heimatorte aufgeben und sich in einer für sie ungewissen Gegend niederlassen mussten. In Polen und Litauen wurde die Geschichte dieser Zwangsmigrationen bis zur politischen Wende 1989/91 verdrängt, seither sind sie praktisch aus dem Nichts heraus zu einem der meistdiskutierten zeitgeschichtlichen Themen geworden. Auch hier werden die Zwangsmigrationen mittlerweile in einen europäischen Zusammenhang gerückt, also Flucht und Vertreibung der Deutschen gemeinsam mit der Umsiedlung polnischer, ukrainischer, weißrussischer und litauischer Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten Polens, die nun zur Sowjetunion gehörten, besprochen. In Russland hingegen sind Flucht, Vertreibung und Umsiedlung aus und in das „Pruzzenland“ kaum ein Thema. Dies wird vielleicht etwas verständlicher, wenn man bedenkt, in welch großem Umfang in der Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren, in der Zeit des Stalinismus, Deportationen von ganzen Bevölkerungsgruppen stattgefunden haben und welch große menschliche Verluste die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erlitt. Demgegenüber erscheint das Geschehen im östlichen Mitteleuropa seit 1944/45 vergleichsweise unerheblich.

Ansätze eines europäischen Erinnerns

Trotz manch beachtlicher Annäherung ist ein gemeinsames europäisches Erinnern an die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts noch eine Zukunftsaufgabe. In der historischen Forschung sind in den letzten Jahren einige Wege erschlossen worden, die dorthin führen können. In unserem Thema „Migration“ werden zwei davon berücksichtigt, die das multiethnische Setting der Region berühren, und einer, der auf eine zentrale methodische Frage verweist.

Als wichtige Ursache für Flucht, Vertreibung und Umsiedlung ist in den letzten Jahren die politische Utopie ethnisch homogener Nationalstaaten erkannt worden. Es sind aber nicht nur die Absichten und die Vorgehensweisen der „Sieger“ zu betrachten, sondern auch die Auswirkungen am konkreten Ort. Die Utopie ethnisch homogener Nationalstaaten wird im Falle des „Pruzzenlandes“ konfrontiert mit der Mikrogeschichte direkter menschlicher Begegnungen, mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Handlungsoptionen der Betroffenen vor Ort und auch mit den längerfristigen Folgen. Flucht, Vertreibung und Umsiedlung waren kein einmaliges Ereignis 1944 – 48, sondern bewirkten in den folgenden Jahrzehnten, zum Teil bis heute, immer wieder neue Migrationsdynamiken.

Zugleich hatten Flucht, Vertreibung und Umsiedlung eine Vorgeschichte, für viele Akteure und Betroffene so nahe liegend in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der unmittelbaren Erfahrung von Krieg und Besatzungsherrschaft. Diese Erfahrungen beeinflussten nicht nur die gewaltsamen „Methoden“, mit denen bei Vertreibung und Umsiedlung vorgegangen wurde, sondern schufen für viele Flüchtlinge und (Neu-)Siedler auch ein Kontinuum ständigen „Auf-dem-Weg-sein-Müssens“. Das komplexe und widersprüchliche Geschehen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung ist schließlich anfällig dafür, dass Erzählungen, oft sogar Geschichtsmythen geschaffen werden, die in scheinbar einleuchtender und schlüssiger Weise eine einzelne Perspektive in den Vordergrund rücken. Oft werden solche Erzählungen mit der „Echtheit“ von Fotomaterial oder Zeitzeugenberichten untermauert. Tatsächlich ist hier oft ein besonders kritischer Blick auf Entstehungskontext, Zweck und Gebrauch erforderlich.

Schule mit Migrationshintergrund

Ob auf dem Pausenhof, bei Schulfesten, im Klassenzimmer, im Lehrerkollegium oder auf Elternabenden - im Ermland und Masuren der 1950er Jahre traf eine bunt gemischte Bevölkerung aufeinander. Die Lehrergattin Irmgard Rohra erinnert sich nicht nur an seit 1945 neu angesiedelte Polen und verbliebene Deutsche, sondern auch an Ukrainer, Litauer und polnische Spätaussiedler aus der Sowjetunion, die oftmals besser Russisch sprachen als Polnisch. Quelle öffnen

Sehnsuchtsort Westdeutschland

Viele Erzählungen zur Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung handeln vom plötzlichen und gewaltsamen Verlust der Heimat am Ende des Zweiten Weltkriegs. Meistens enden diese Erzählungen in den späten 1940er Jahren. Ganz übersehen wird dabei, dass im „Pruzzenland“ noch viele Menschen lebten, denen eine Entscheidung zwischen Deutsch-Sein und Polnisch-Sein schwerfiel. Seit den 1950er Jahren wuchs allerdings rasch die Attraktivität der Bundesrepublik Deutschland. Die polnischen Behörden reagierten darauf hilflos. Quelle öffnen

Aus den Weiten der Sowjetunion nach Kaliningrad

Der nördliche Teil des „Pruzzenlandes“ gehörte seit 1945 zur Sowjetunion. Nach der Flucht, Vertreibung und Umsiedlung eines Großteils der deutschen Bevölkerung lag den sowjetischen Behörden daran, das Gebiet möglichst rasch neu zu besiedeln. Aus welchen Motiven heraus kamen die sowjetischen Bürgerinnen und Bürger nach Kaliningrad? Was erlebten sie bei ihrer Ankunft? Und wie gestaltete sich das ungewohnte Zusammenleben mit Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Sowjetunion? Quelle öffnen

Wir steigen hier nicht aus!

Freiwillig hatten sie ihre Heimat nicht verlassen, und dann erlebten sie am neuen Ansiedlungsort auch noch unliebsame Überraschungen: Eine Gruppe polnischer Umsiedler aus Wolhynien, seit 1944 zur Ukrainischen SSR gehörig, wollte im „Pruzzenland“ erst einmal gar nicht aus dem Zug steigen. Quelle öffnen

Anders als erwartet

Identität und Zugehörigkeit sind nicht für alle Zeiten festgeschrieben. Diese Erfahrungen machen zum Beispiel die einheimischen („autochthonen“) Ermländer und Masuren, die sich oft weder als Deutsche noch als Polen sehen. Für die Mehrheitsgesellschaften ist das nicht leicht zu fassen, sogar Schulbuchautoren ringen um Erklärungen. Quelle öffnen