Überwundene Konflikte
In der historischen Beurteilung der älteren Migrationen hat sich in den letzten 20, 30 Jahren viel verändert. So stand die mittelalterliche Siedlungsbewegung lange Zeit im Ruf, einer „Germanisierung“ des östlichen Mitteleuropas Vorschub zu leisten. Heute wird dieses Geschehen stärker in einen europäischen Zusammenhang eingebettet: Die Siedler, die keineswegs nur aus dem deutschen Reich kamen, suchten für sich und ihre Angehörigen nach besseren Lebenschancen und bewirkten einen Erfahrungs- und Wissenstransfer, der sich in neuen Ideen für Landwirtschaft und Handwerk, Handel und Architektur zeigte. Auch die Migrationsgeschichten der Salzburger und der Ost-West-Wanderer sind von früheren konfessionellen oder ethnischen Überhöhungen befreit. So gelassen wie auf die mittelalterliche und (früh-)neuzeitliche Geschichte blicken wir auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts meist nicht.
„Heiße“ Zeitgeschichte
Das bis heute viel diskutierte, große Migrationsthema des „Pruzzenlandes“ sind die Zwangsmigrationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es gab insbesondere in den Jahren 1944/45 zahlreiche Todesopfer, nationale Grenzen wurden neu gezogen und die Erinnerung an die frühere Vergangenheit der Region wurde oft rigoros verdrängt. Deutsche, polnische, litauische und russische Erfahrungen und Perspektiven treffen hier unmittelbar aufeinander.
In Deutschland war die Erzählung von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung häufig in eine Untergangsstimmung gehüllt und der Blick richtete sich nahezu ausschließlich auf das Schicksal der deutschen Bevölkerung. Das hat sich seit den 1990er Jahren, als das Thema öffentlichkeitswirksam in den unterschiedlichsten Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Internet, etwa YouTube) diskutiert wurde, etwas verändert. In den Medien wird die Geschichte von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung einerseits mit starken Emotionen vermittelt, andererseits nimmt man nun auch das Schicksal anderer Bevölkerungsgruppen im östlichen Mitteleuropa wie der Polen, Weißrussen, Ukrainer oder Litauer wahr, die seit 1944/45 ebenfalls höchst unfreiwillig ihre Heimatorte aufgeben und sich in einer für sie ungewissen Gegend niederlassen mussten. In Polen und Litauen wurde die Geschichte dieser Zwangsmigrationen bis zur politischen Wende 1989/91 verdrängt, seither sind sie praktisch aus dem Nichts heraus zu einem der meistdiskutierten zeitgeschichtlichen Themen geworden. Auch hier werden die Zwangsmigrationen mittlerweile in einen europäischen Zusammenhang gerückt, also Flucht und Vertreibung der Deutschen gemeinsam mit der Umsiedlung polnischer, ukrainischer, weißrussischer und litauischer Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten Polens, die nun zur Sowjetunion gehörten, besprochen. In Russland hingegen sind Flucht, Vertreibung und Umsiedlung aus und in das „Pruzzenland“ kaum ein Thema. Dies wird vielleicht etwas verständlicher, wenn man bedenkt, in welch großem Umfang in der Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren, in der Zeit des Stalinismus, Deportationen von ganzen Bevölkerungsgruppen stattgefunden haben und welch große menschliche Verluste die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erlitt. Demgegenüber erscheint das Geschehen im östlichen Mitteleuropa seit 1944/45 vergleichsweise unerheblich.
Ansätze eines europäischen Erinnerns
Trotz manch beachtlicher Annäherung ist ein gemeinsames europäisches Erinnern an die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts noch eine Zukunftsaufgabe. In der historischen Forschung sind in den letzten Jahren einige Wege erschlossen worden, die dorthin führen können. In unserem Thema „Migration“ werden zwei davon berücksichtigt, die das multiethnische Setting der Region berühren, und einer, der auf eine zentrale methodische Frage verweist.
Als wichtige Ursache für Flucht, Vertreibung und Umsiedlung ist in den letzten Jahren die politische Utopie ethnisch homogener Nationalstaaten erkannt worden. Es sind aber nicht nur die Absichten und die Vorgehensweisen der „Sieger“ zu betrachten, sondern auch die Auswirkungen am konkreten Ort. Die Utopie ethnisch homogener Nationalstaaten wird im Falle des „Pruzzenlandes“ konfrontiert mit der Mikrogeschichte direkter menschlicher Begegnungen, mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Handlungsoptionen der Betroffenen vor Ort und auch mit den längerfristigen Folgen. Flucht, Vertreibung und Umsiedlung waren kein einmaliges Ereignis 1944 – 48, sondern bewirkten in den folgenden Jahrzehnten, zum Teil bis heute, immer wieder neue Migrationsdynamiken.
Zugleich hatten Flucht, Vertreibung und Umsiedlung eine Vorgeschichte, für viele Akteure und Betroffene so nahe liegend in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der unmittelbaren Erfahrung von Krieg und Besatzungsherrschaft. Diese Erfahrungen beeinflussten nicht nur die gewaltsamen „Methoden“, mit denen bei Vertreibung und Umsiedlung vorgegangen wurde, sondern schufen für viele Flüchtlinge und (Neu-)Siedler auch ein Kontinuum ständigen „Auf-dem-Weg-sein-Müssens“. Das komplexe und widersprüchliche Geschehen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung ist schließlich anfällig dafür, dass Erzählungen, oft sogar Geschichtsmythen geschaffen werden, die in scheinbar einleuchtender und schlüssiger Weise eine einzelne Perspektive in den Vordergrund rücken. Oft werden solche Erzählungen mit der „Echtheit“ von Fotomaterial oder Zeitzeugenberichten untermauert. Tatsächlich ist hier oft ein besonders kritischer Blick auf Entstehungskontext, Zweck und Gebrauch erforderlich.