Der nördliche Teil des „Pruzzenlandes“ gehörte seit 1945 zur Sowjetunion. Nach der Flucht, Vertreibung und Umsiedlung eines Großteils der deutschen Bevölkerung lag den sowjetischen Behörden daran, das Gebiet möglichst rasch neu zu besiedeln. Aus welchen Motiven heraus kamen die sowjetischen Bürgerinnen und Bürger nach Kaliningrad? Was erlebten sie bei ihrer Ankunft? Und wie gestaltete sich das ungewohnte Zusammenleben mit Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Sowjetunion?

S. 37: Bericht Antonina Prokopjewna Otstawnych:

Nach dem Krieg wohnten meine Schwester und ich in Grodno. Einmal sah ich auf dem Nachhausweg eine Bekanntmachung, Es war die Rede davon, daß Arbeiter und Bedienstete für eine Werft in der Stadt Kaliningrad aufgestellt werden sollten. Ich sprach mit meiner Schwester, und wir beschlossen, nach Kaliningrad zu ziehen, Die Anwerbung fand in einem Verwaltungsgebäude mit kleinen Zimmern statt. Als wir ankamen, waren dort gleich drei Anwerber auf einmal. Sie überredeten uns um die Wette, in die neuen Gebiete zu fahren; der eine – zu den Bergwerken des Kohlebeckens von Kusnezk, der andere – zur Werft in Kaliningrad…. Ich erinnere mich nicht mehr, woher der dritte kam. Die Anwerber stürzten sich auf jeden Menschen. Es interessierte sie nicht einmal, welche Berufe die potentiellen Umsiedler hatten. Sie sagten: Wenn du keinen Beruf hast, kannst du ihn im dortigen Betrieb erlernen. Jeder Anwerber versuchte, die Leute dazu zu überreden, in seine Gegend zu fahren. Einer von ihnen sagt zu uns: „Mädchen! Wozu wollt ihr nach Kaliningrad fahren? Dort müßt ihr doch Schiffe unter freiem Himmel bauen.“ Aber wir beschlossen trotzdem, nach Kaliningrad zu fahren.

S. 38, Bericht von Michail Iwanowitsch Iwanow, vormals Soldat:

Als ich im Jahr 1947 entlassen wurde, sagte mir ein Kamerad von der Front, daß in unserer Stadt ein Mann aus Kaliningrad angekommen sei, der Leute für eine Werft anwerbe. Der Familienname dieses Anwerbers lautete, wie ich mich jetzt erinnere, Jarowoi. Er selbst hatte auf dieser Werft gearbeitet, und von dort hatte man ihn zu uns geschickt, um Arbeiter und Spezialisten aller Berufe zu sammeln. Es sah zu jener Zeit mit Arbeitskräften offensichtlich schlecht aus. Davon habe ich mich im Anschluß auch selbst überzeugt, als ich angekommen war und zu arbeiten begonnen hatte. Jarowoi hatte sich in einer Privatwohnung niedergelassen, und dorthin kamen Leute zu ihm, die den Beschwernissen des Nachkriegslebens entkommen wollten. Jarowoi sprach mit jedem, malte das Leben in Kaliningrad in den schönsten Farben. Nachdem er die Leute überredet hatte, sich anwerben zu lassen, gab er ihnen Formulare zum Ausfüllen, in denen stand: „Ich, der und der, wünsche, in die Stadt Kaliningrad zu fahren und dort zu leben…“ Unverheirateten sagt er, daß man sich im Wohnheim niederlassen oder neben dem Betrieb ein Zimmer mieten könne. Er sagte auch, daß es in Kaliningrad viel leerstehenden Wohnraum gebe. Man glaubte dem Anwerber, weil sein Äußeres Achtung einflößte. Außerdem sagte er, daß man ihn, wenn der die Angeworbenen in irgendeiner Hinsicht betrüge, in Kaliningrad immer finden und für den Betrug zur Rechenschaft ziehen könne. Viele hatten Angst, dorthin zu fahren, weil sie wußten, daß es eben doch ehemals deutsches Territorium war und daß dort noch Deutsche waren, die den Russen gegenüber wohl kaum freundschaftlich gesonnen waren. Ich persönlich hatte keine Angst zu fahren, weil ich schon 1945 in Ostpreußen gekämpft hatte und eben dort ins Lazarett geraten war. Der Anwerber sagte ja auch, daß die Deutschen in Kaliningrad eine vorübergehende Erscheinung seien, daß man sie bald aussiedeln werde und an ihrer Stelle Leute aus Weißrußland uns anderen Orten des Landes bringen werde, daß diese Region immer sowjetisch sein würde.

S. 44: Bericht Wladimir Grigorjewitsch Schmeljow:

Mein Bruder Wassili hat in Ostpreußen gekämpft. Nach dem Krieg ist er nach Hause gekommen, hat dort einige Zeit gelebt, sich umgeschaut und für eine Arbeit in dem Gebiet anwerben lassen, wo er das Kriegsende erlebt hat. Er schrieb uns Briefe, daß das Leben hier gut sei. Wir, sagt er, essen hier Fisch bis zum Umfallen, die Köpfe von Heringen essen wir nicht einmal, sondern werfen sie zum Fenster raus. Und wir haben doch im Gebiet Rjasan keine Fische zu Gesicht bekommen. Na ja, wenn man uns Anchovis brachte, ganz kleine, so verkaufte man sie schwarz an Bekannte. Er schrieb: Kommt zu uns, wir leben nicht schlecht, bei uns gibt es Brassen und Zander. Und wir wußten noch nicht einmal, was das für Fische sind. Mutter ging zum Bevollmächtigten und ließ sich anwerben.

S. 64 – 66: Bericht Michail Iwanowitsch Iwanow über die Ankunft in Kaliningrad 1947:

Man sagte uns, daß wir den Zug nicht verlassen sollten. In der Stadt, unweit des Güterbahnhofs, hörte man Schüsse. Ich erkundigte mich bei den Soldaten, was los sei, und sie antworteten mir, daß man irgendeine Bande fange. Wir saßen die ganze Nacht in den Waggons, der Zug wurde mit Maschinenpistolen bewacht. Man warnte die Umsiedler, daß sie auf der Hut sein sollten. Unsere Frauen, die mit Kindern gekommen waren, schrien und weinten sich müde vor Angst. Die Menschen befiel sogar eine Apathie, und sie kamen zum dem Schluß, daß man sie einfach betrogen habe: Bei der Anwerbung hatte es geheißen, daß in Kaliningrad alles ruhig sei, hier aber wurde geschossen.

S. 71: Bericht Jewdokija Iwanowna Tscherkanowa über die Ankunft im Gebiet Kaliningrad:

Man lud uns in Autos ein und fuhr los. Es war schon Nacht. Irgendwo im Wald lud man uns aus. Der Chauffeur sagt: Ich habe Anweisung, euch in dem Kreis hier abzuliefern, hier müßt ihr schon selbst klarkommen. Und er ist weggefahren, ringsherum war nichts zu sehen. Vater sagt, wir müssen bis zum Morgen warten, dann klären wir das. Mutter fing schon an, davon zu sprechen, zurückzufahren, nach Hause. Wir haben eine Hütte aus Ästen gebaut. So haben wir dann übernachtet. Vater ist morgens losgegangen, um sich umzusehen. Er kommt zurück und sagt: In 800 Meter Entfernung von uns gibt es ein alleinstehendes Gehöft, da leben unsere Umsiedler aus Brjansk. 300 Meter weiter kommt noch ein Gehöft. Das Haus dort war nicht besonders gut, es hatte weder Fenster noch Türen. Das Dach war aus irgendeinem Grund mit Stroh gedeckt. Überall sind die Häuser mit Ziegeln gedeckt, aber dieses hier mit Stroh. Daneben stand ein Pferdestall und eine gut erhaltene Scheune. Sowohl Pferdestall als auch Scheune waren mit Ziegeln gedeckt. Vater sagt, na ja, lange werden wir hier nicht leben, wir werden hier zwei bis drei Jahre leben und wieder wegfahren. Wir begannen, uns einzurichten, Türen haben wir irgendwoher angeschleppt, die Fensterscheiben setzten wir stückweise ein. Daneben lag ein Garten mit Apfelbäumen und auch irgendwelchen anderen Bäumen. Er hat uns sehr gut gefallen. Den Ort haben wir dann auch deutsch benannt – Popelken.

S. 289: Bericht Alexandr Sergejewitsch Schtutschny:

Die Bevölkerung im Gebiet war in den meisten Fällen multinational. Es schien, als ob hier alle Völker und alle Gebiete unseres Landes vertreten waren. Wenn sich die Leute kennenlernten oder in der Straßenbahn oder im Geschäft miteinander ins Gespräch kamen, war die erste Frage: „Woher kommen Sie?“ Und wenn du weggefahren bist, hieß es immer: „Ich fahre nach Rußland“. Wenn ein Brief kam, egal ob aus der Ukraine, aus Georgien oder Sibirien, sagte man: „Aus Rußland“. Das heißt, die ganze Sowjetunion war für die Neusiedler Rußland. Wir lebten hier sehr freundschaftlich miteinander, und niemand nahm Anstoß an der Nationalität seines Nachbarn oder Arbeitskollegen.

[Originalsprache russisch]

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Quelle: Eckhard Matthes und Jurij Kostjašov (Hg.): Als Russe in Ostpreußen. Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Königsberg/Kaliningrad nach 1945. Ostfildern 1999.