Ob auf dem Pausenhof, bei Schulfesten, im Klassenzimmer, im Lehrerkollegium oder auf Elternabenden - im Ermland und Masuren der 1950er Jahre traf eine bunt gemischte Bevölkerung aufeinander. Die Lehrergattin Irmgard Rohra erinnert sich nicht nur an seit 1945 neu angesiedelte Polen und verbliebene Deutsche, sondern auch an Ukrainer, Litauer und polnische Spätaussiedler aus der Sowjetunion, die oftmals besser Russisch sprachen als Polnisch.

Bericht von Irmgard Rohra:

Seit 1953 war mein Mann Lehrer in Rechenberg (Kosewo). Er hatte zwei polnische Kollegen. Später kamen zwei deutsche dazu. Die Kinder waren überwiegend deutsch. Weil sie in den Pausen deutsch sprachen, sprachen auch einige polnische Kinder deutsch. Ich habe sie mitunter verwechselt. Wenn der Schulrat kam und die Kinder fragte, in welchem Fach sie die schlechtesten Noten hätten, dann kam es wie aus einem Munde: „Z języka polskiego“ (in der polnischen Sprache). „Seht ihr, ihr müßt in den Pausen schön polnisch sprechen.“

Die Lehrer waren alle jung und enthusiastisch. Das Gehalt war erbärmlich. Alle waren sie arm, Lehrer und Kinder. So wurde von den Lehrern und vom Elternrat beschlossen, Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten der Kinder zu organisieren. Es klappte hervorragend. Die Kinder spielten Theater, sangen und tanzten, es waren auch echte Talente darunter. Es gab Dorfgemeinschaftsabende. Es gab Zabawy, Tanzveranstaltungen mit Orchester, die einen großen Zulauf hatten: Leider gab es dann Alkohol, pro Flasche ein Messer. Nicht selten endete das mit Schlägereien, so daß die Miliz eingreifen mußte.

Vom Erlös wurden Fahrten für die Kinder organisiert, z. B. nach Krakau, Wieliczka, Nowa Huta, Auschwitz, Warschau usw. Dann Theaterfahrten, Weihnachtsbescherungen, Fastnachtsfeiern mit Krapfen und vieles andere mehr.

Bei Elternversammlungen und Lehrerkonferenzen, die auch manchmal in Kosewo stattfanden, wurde jeweils ein Essen gemacht. Wir Frauen trafen uns in der Schulküche. Gemeinsam schmierten und belegten wir Brötchen, die ein Vater, der von Beruf Bäcker war, eigens für die Schule buk. Er brachte auch die wunderbaren, selbsteingelegten Salzgurken mit. Eine Ukrainerin spendierte die dicke saure Sahne. Die fetten Heringe wurden gekauft und zusammen mit frischem Dill und kleingeschnittenen gekochten Pellkartoffeln zu einem herrlich wohlschmeckenden Kartoffelsalat verarbeitet. Schade, so etwas Leckeres gibt es nie wieder. Wir waren damals ein ziemlich gemischtes Völklein – Polen, Litauer, Ukrainer, Deutsche und viele andere. Die Zusammenarbeit klappte hervorragend. Es war eine wunderbare Zeit.

In den Jahren 1956 und 1957 begann das Ausreisefieber der Deutschen. Nachdem Adenauer in Moskau war und die Kriegsgefangenen heim nach Westdeutschland kamen, begann die Familienzusammenführung. In den jetzt leerstehenden Häusern wurden Repatrianten angesiedelt. Oft saßen sie schon mit ihrem Gepäck vor der Tür. Das Singen und Beten sowie Abschiednehmen erfolgte gemeinsam, und gemeinsam waren auch die Tränen und das Schicksal. Man wünschte sich gegenseitig Glück und Segen. Man blieb in Kontakt und besuchte sich nach Jahren. Ihre Gastfreundschaft ist unbeschreiblich.

In den Schulen machte sich der Wechsel bemerkbar. Die deutschen Kinder waren zum größten Teil weg. An deren Stelle kamen die Repatriantenkinder, die nur russisch konnten, auch schlechter angezogen waren und auch manchmal Flöhe hatten. Kinder sind ja grausam, Wie oft wurden diese Kinder verprügelt, so daß man manchmal einschreiten mußte.

Wir persönlich hatten nun mehr Kontakt mit den Repatrianten. Viele sprachen so merkwürdig, daß man sie nicht verstehen konnte. Manche kamen bis von Kamtschatka, sie waren drei Wochen unterwegs. Viele kamen aus Sibirien. Dann waren da Menschen aus Weißrußland, Wilna, aus der Ukraine und Zentralpolen. Mit den Leuten aus Kurpien haben wir es weniger gehalten. Man hörte öfter russische Lieder. Wir lernten „Kalinka“, die russische Seele kennen.

1959 und danach sind die meisten Deutschen rausgefahren. Schließlich wollte keiner mehr bleiben. Die Anträge zur Ausfahrt häuften sich. Die Absagen auch. Viele stellten bis zu fünf Anträge, bis sie endlich die Zusage zur Ausfahrt hatten. Um den Paß zu bekommen, mußte man sämtliche Bescheinigungen vorbringen. Vor allem, daß man keine Schulden hat, alle Steuern bezahlt sind und daß man seinen sämtlichen Besitz dem polnischen Staat überläßt. Ansonsten gab es keinen Paß. Mitnehmen konnte man alles, nur keine Bücher und Wertsachen. Man half allen packen, man feierte Abschied mit Bärenfang, man ging zur Bahn und sang „Nun ade, du mein lieb Heimatland“, man winkte und zerdrückte Tränen.

Im Jahre 1963 schlug auch für uns die Stunde der Ausfahrt. Zur Bahn begleiteten uns alle Lehrer, alle Kinder und Dorfbewohner. Uns sang man:

Jak szybko płynie życie, jak szybko płynie czas.

Wie schnell vergeht das Leben, wie schnell vergeht die Zeit.

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Quelle: Nachkriegsalltag in Ostpreußen. Erinnerungen von Deutschen, Polen und Ukrainern,  hrsg. von Hans-Jürgen Karp und Robert Traba [Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands, Beiheft 16], Münster 2004, S. 329 – 331.