Eine erste Annäherung an das „Pruzzenland“ erfolgt in vielen Fällen über die „Landschaft“. Zahlreiche Bildbände zu „Masuren“ bzw. „Ostpreußen“ sind auf den Markt, die mit großformatigen Fotografien die natürlichen Reize der Region in Szene setzen. Auch Filme, Belletristik und sogar wissenschaftliche Werke stimmen auf die Region ein, indem sie „das Land der weiten Himmel, der tiefen Wälder und der zahllosen Seen“ zitieren.

Landschaft – schön schwierig

Allerdings ist mit Landschaft noch längst nicht jeweils dasselbe gemeint. So finden wir im „Pruzzenland“ die touristisch attraktive Masurische Seenplatte, während das Gebiet Kaliningrad so gut wie keine Seen besitzt (Polnische Geographen haben daher für das nördliche „Pruzzenland“ den treffenden Begriff zajezierze, „Land hinter den Seen“, geprägt). Dafür setzt in der Nähe Kaliningrads eine Steilküste mit markanten Kreidefelsen an, die in die sandige Kurische Nehrung übergeht. Der Süden des „Pruzzenlandes“ wird von hügeligem Gelände, dem „Oberland“, und ausgedehnten Wäldern dominiert, die Memelniederung im Norden hingegen von Auen und Feuchtgebieten.

Über diese konkreten, bei einer Wanderung oder Fahrt durch das „Pruzzenland“ leicht wahrzunehmenden abwechselnden Eindrücke hinaus ist Landschaft ganz allgemein ein schwieriger Begriff, denn mit Landschaft verbinden sich sehr unterschiedliche Konzepte und Ideen. Da ist zum ersten die Frage, ob Landschaft nur die unberührte Natur meint? Oder zählen dazu auch bearbeitete Felder (als sog. „Kulturlandschaft“) oder gar Dörfer und Städte („Stadtlandschaft“ oder „urbane Landschaft“)? Und noch verwickelter wird es, wenn wir nach der Rolle des Menschen fragen.

Das „Pruzzenland“ bietet dafür aufschlussreiche Beispiele, gerade auch im internationalen Vergleich. In Deutschland galt lange Zeit, bis weit ins 20. Jahrhundert, die Vorstellung, dass eine bestimmte Landschaft den darin lebenden Menschen präge (Naturdeterminismus für das Glossar). Über das „Pruzzenland“ schrieb ein Geographieschulbuch in den 1950er Jahren, angesichts des harten Klimas und der urwüchsigen Natur im äußersten Osten des früheren Deutschen Reiches sei „im Laufe der Jahrhunderte der zähe ostpreußische Menschenschlag erwachsen“.[2] Nach den Zwangsmigrationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs 1944/45 fehlte es dann an diesem Menschenschlag und deshalb erschien es schlüssig, über den Zerfall und die Entfremdung der Region zu klagen. Eine ganz andere Einstellung gab es dagegen in kommunistisch ausgerichteten Ländern wie der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen. Hier galt nicht der Mensch als ein Produkt der landschaftlichen Gegebenheiten, sondern vielmehr als ihr Gestalter (Materialismus für das Glossar). Typisch ist daher für sowjetische Schulbücher, dass sie gerne Abbildungen von landwirtschaftlichen Maschinen und monströsen Industrieanlagen zeigen, als Zeichen dafür, wie gut das Gebiet Kaliningrad nach 1945 bewirtschaftet werden konnte.

Die Landschaft „in den Köpfen“

Aus den bisherigen Beispielen wurde vielleicht schon deutlich, dass es große Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Landschaft gibt. Vor geraumer Zeit sind daher Wissenschaftler auf die Idee gekommen, genau diese Wahrnehmung von Landschaft, Raum und natürlicher Umwelt zu untersuchen, nämlich als „Welt in den Köpfen“. Landschafts- und Raumvorstellungen erscheinen so als das Ergebnis einer ständigen  sozialen und kulturellen Konstruktionsleistung. Zugleich sind Landschaftsbeschreibungen ein wichtiges Stilmittel der Geschichtserzählung. Sie haben die Funktion, Stimmungen zu erzeugen – Hochgefühle angesichts heroischer Taten und Schaudern angesichts von Katastrophen und Niederlagen.

So schilderten ältere deutsche Geschichtsschulbücher ausgiebig die Sümpfe, Moore und „undurchdringlichen Wälder“ des „Pruzzenlandes“, wenn sie von der mittelalterlichen Geschichte der Region berichteten, und gaben damit der Eroberung des Landes durch den Deutschen Orden einen heldenhaften Anstrich. Nach einem ähnlichen Muster funktionierten Erzählungen von den deutschen Siegen im Ersten Weltkrieg bei Tannenberg 1914 und in der masurischen Winterschlacht 1915, als nach hartem Kampf mit Kriegsgegner und Landesnatur die russischen Truppen aus dem „Pruzzenland“ vertrieben werden konnten. Zu einer Bedrohung verdichtete sich die Landschaft dagegen, wenn Flucht und Vertreibung im Winter 1944/45 zum Thema wurden: Die frostigen klimatischen Bedingungen brachten das Schicksal der Bevölkerung des „Pruzzenlandes“ höchst drastisch nahe. Düster war auch das Bild, das in der Sowjetunion vom „Pruzzenland“ gezeichnet wurde, nämlich als einer Landschaft mit massiven Befestigungsanlagen, Maschinengewehrnestern, Schützengräben und Panzersperren. Aber selbst in der Sowjetunion war dies nicht die einzige Möglichkeit, die Landschaft des „Pruzzenlandes“ zu bewerten: So freuten sich Geographen über das „milde“ maritime Klima im „Pruzzenland“ und die auch zur Winterzeit weitgehend eisfreien Häfen an der Ostseeküste. Der Kontrast zur deutschen Wahrnehmung ist sofort erkennbar, aber nicht sehr erstaunlich, wenn man bedenkt, dass als Vergleichsmaßstab die Landschaften Zentralrusslands dienten.

Alles nur Einbildung?

Die Bewertung und Wahrnehmung von Landschaft ist in hohen Maße abhängig von kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten, die sich wiederum im Laufe der Jahrzehnte erheblich verändern können. Die tatsächliche Bedeutung von Landschaft für historische Ereignisse oder wirtschaftlichen Entwicklungen lässt sich von einer Stilisierung von Landschaft oft kaum unterscheiden.

Damit ist nicht gesagt, dass Landschaften ausschließlich „in den Köpfen“ existieren. Bäume und Gräser lassen sich begreifen, Temperaturen und Niederschlagsmengen lassen sich messen. Es kommt allerdings sehr stark darauf an, wie solche einzelnen Puzzleteile zusammengesetzt werden. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass auch etwas so scheinbar Selbstverständliches und „Natürliches“ wie Landschaft aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann, ist dabei keine so schlechte Übung, um die europäischen Nachbarn besser zu verstehen.

 


[1] Andreas Kossert. Masuren. Ostpreußens vergessener Süden. München 2001, S. 9-10.

[2] Christian Degn u. a. (Hg.). Seydlitz. Teil 4. Deutschland und Europa. 5. Auflage Kiel, Hannover 1958, S. 110.

Raues Klima

Von Mitteleuropa aus betrachtet, liegt das „Pruzzenland“ weit im europäischen Nordosten, fast schon in Sibirien. Ältere deutsche Schulbücher nutzen eifrig die Vorstellung von unwirtlichen klimatischen Verhältnissen im „Pruzzenland“, um ihre Geschichten anzureichern: zur masurischen Winterschlacht im Ersten Weltkrieg (1915) oder zur Flucht der preußischen Königin Luise vor den Truppen Napoleons (1807). Quelle öffnen

Mildes Klima

In den frühen 1950er Jahren widmeten sich sowjetische Geographie-Schulbücher mit einigem Interesse dem neu erworbenen Gebiet Kaliningrad. Sie hoben dabei das milde maritime Klima und die auch zur Winterzeit eisfreien Häfen an der Ostseeküste hervor. Diese Vorzüge sehen auch noch aktuelle russische Geographie-Schulbücher. Quelle öffnen

Eine Albtraum-Landschaft

Trotz des milden Klimas – ganz geheuer war sowjetischen und russischen Schulbuchautoren das „Pruzzenland“ nicht, im Gegenteil. Sie sahen in der Landschaft vor allem die düsteren Hinterlassenschaften heftiger Kämpfe im Zweiten Weltkrieg. Quelle öffnen

Beschwerliche Wege ans Meer

Die russische Neusiedlerin Anna Andrejewna Kopylowa berichtet von den 1940er Jahren: „Theoretisch wußten wir, daß wir in der Nähe eines wunderschönen Meeres leben, aber praktisch hatten wir keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Die Straßen waren alle zerstört. Auch fuhren noch keine Passagierzüge…“ Quelle öffnen

Eine Zukunftslandschaft

Der Süden des „Pruzzenlandes“ kam 1945 zu Polen und wurde in der staatlichen Propaganda als „wiedergewonnenes Gebiet“ gefeiert. Allerdings war in praktischer Hinsicht nicht ganz so offensichtlich, was mit dem neuen Gebiet anzufangen war. In das wirtschaftliche Wiederaufbau-Ideal der Nachkriegsjahre mit rauchenden Fabrikschloten passte es nicht. Quelle öffnen