Über die Pruzzen, die wir als Namensgeber des „Pruzzenlandes“ gewählt haben, hat man lange Zeit nur wenig gewusst. Zwar berichtete eine Reihe von mittelalterlichen Schriften und Chroniken von den „Pruzzen“, doch für ein breiteres Publikum waren es oft Lesebücher mit fantasievollen „altpreußischen“ Sagen, die das Bild von den Pruzzen prägten. Auch viele Schulbücher stützten sich auf Spekulationen.

 

Die Pruzzen in modernen nationalen Mythen

Wo Sagen und Spekulationen blühen, wächst die Bereitschaft, historisches Geschehen für politisch, religiös oder national motivierte Deutungen zu vereinnahmen. Für den Fall der Pruzzen gibt es eine Reihe eindrücklicher Beispiele, die sich deutschen, litauischen, polnischen und russischen Schulbüchern entnehmen lassen.

So zählten litauische Geschichtsschulbücher die Pruzzen gerne zu den eigenen nationalen Vorfahren, indem sie diese als „einen zahlenmäßig starken und tapferen litauischen Stamm” beschrieben. Deutsche Geschichtsschulbücher hingegen ließen die Pruzzen meist nur schemenhaft auftreten, wenn es um die Unterwerfung des „Pruzzenlandes“ durch den Deutschen Orden und die deutsche mittelalterliche Siedlungsbewegung ging. Der Widerstand der Pruzzen ließ das Handeln der Eroberer umso heldenhafter wirken. Eine eigenständige Geschichte der Pruzzen kam so gut wie kaum zur Sprache, lediglich in Schulbüchern der NS-Zeit wurden manchmal vermeintliche kulturelle Einflüsse herausgestellt, die Germanen und Wikinger auf die Pruzzen ausgeübt haben sollen.

Ein weiteres Deutungselement ist die Christianisierung der Pruzzen, und zwar vor allem in polnischen und seit neuerem auch in russischen Geschichtsschulbüchern, die ausführlich Mission und Märtyrertod des heiligen Adalbert  und des heiligen Bruno von Querfurt  würdigen. Auch hier erscheinen die Pruzzen vor allem als Widerständige und das Wirken der Missionare erstrahlt umso heller.

Was können wir heute tatsächlich über die Pruzzen wissen?

Einer der besten Kenner der Pruzzen und ihrer Geschichte ist der Historiker Grzegorz Białuński (Olsztyn). Er fasst den aktuellen Kenntnisstand, der aus einer Vielzahl verstreut vorliegender Schriftquellen und archäologischer Untersuchungen stammt, so zusammen[1]: Die Pruzzen (oder Prußen, Eigenname wohl Prūsai) waren eine baltische Ethnie, verwandt mit den heutigen Litauern und Letten. Sie hatten kein eigenes Reich gegründet, sondern lediglich einen relativ losen Verband gebildet, der die Gebiete Pomesanien, Pogesanien, Warmien, Samland, Barten, Sassen, Galinden, Natangen, Nadrauen, Schalauen und Jatwingien/Sudauen umfasste. Dabei setzten sich die einzelnen Gebiete wiederum aus kleineren territorialen Einheiten (pulka) zusammen, die sehr selbständig auftraten. Die zentrale politische Rolle spielte die Veče, die Versammlung aller freien und erwachsenen Männer, darüber hinaus gab es Anführer, die konagis („König“) genannt wurden. Ihre Bedeutung nahm zwar in Kriegszeiten zu, doch ein klares Herrschaftssystem hat sich nicht etablieren können.

Die Pruzzen lebten vom Ackerbau und der Viehzucht, auch vom Fischfang und der Imkerei. Vermutlich konnte sich ein eigenständiges Handwerk nicht entwickeln. Handel wurde in größerem Umfang nur an bestimmten Standorten, etwa auf Wochenmärkten und in Häfen betrieben, die verkehrsgünstig gelegen waren.

Zur Religion der Pruzzen hat die Forschung ermittelt, dass es sich wohl um eine Naturreligion oder einen umfangreich verzweigten Polytheismus gehandelt habe. Vorsteher kultischer Handlungen an heiligen Stätten wie Hainen und Wasserquellen waren Oberpriester (criwe). Die Namen der pruzzischen Gottheiten sind uns teilweise erst aus neuzeitlichen Quellen überliefert worden, so etwa der Fruchtbarkeitsgott Curche, der Donnergott Perkunis, der Wassergott Potrimpus und der Totengott Patollus. Eine wichtige Rolle spielten auch Wahrsagerei und Opferungen, darunter von Menschen.

Die Pruzzen gerieten rasch ins Visier der stärkeren und besser organisierten Nachbarn: von Polen, der Rus‘ und den Wikingern. Seit dem 10. Jahrhundert waren Raubeinfälle und Eroberungszüge, die von diesen Nachbarn ausgingen, urkundlich nachgewiesen. Die Wikinger gründeten im „Pruzzenland“ feste Handelsorte wie Truso und  Wiskiauten. Bald setzte auch die christliche Missionierung der Pruzzen ein. Die christlichen Missionen etwa des heiligen Adalberts von Prag im Jahre 997 und des heiligen Bruno von Querfurt im Jahre 1009 wurden vom polnischen Fürsten Bolesław Chrobry unterstützt. Beide Missionen scheiterten und endeten mit dem Märtyrertod der Missionare. Erst für das 12. Jahrhundert sind in den Quellen Vergeltungs- und Raubzüge vermerkt, die von den Pruzzen ausgingen.

Vom Ende einer Ethnie

Das polnische Piastenreich war an der Eroberung des „Pruzzenlandes“ besonders interessiert, während die Fürsten der Rus‘ lediglich in das am weitesten östlich gelegene Sudauen einfielen. In Folge der feudalen Zersplitterung Polens und des von den Pruzzen geleisteten zähen Widerstands blieben die Feldzüge der polnischen Piastenherzöge Bolesław Krzywousty, Bolesław Kędzierzawy und Kazimierz Sprawiedliwy allerdings erfolglos. Die Lage änderte sich, als Konrad von Masowien um 1226 den Deutschen Orden herbeiholte. Die Eroberung des „Pruzzenlandes“ verlief gewaltsam und forderte unter der einheimischen Bevölkerung viele Opfer. Die Pruzzen haben aber die Unterwerfung überstanden; noch im 15. Jahrhundert stellten sie sogar die Mehrheit der Bevölkerung des Ordensstaates. Erst allmählich wurden sie durch deutsche, polnische und litauische Siedler verdrängt. Die letzte Etappe dieses Prozesses war das Aussterben der altpruzzischen Sprache gegen Ende des 17. Jahrhunderts.

 


[1] Grzegorz Białuński: Pruzzen, in: Stephanie Zloch und Izabela Lewandowska (Hrsg.): Das ,Pruzzenland‘ als geteilte Erinnerungsregion. Konstruktion und Repräsentation eines europäischen Geschichtsraums in Deutschland, Polen, Litauen und Russland seit 1900 [Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Instituts für internationale Schulbuchforschung, Bd. 135], Göttingen 2014, S. 115 - 146.

Die verpasste Chance

Noch in der Niederlage überlegen: So wollte eine Schulbuchautorin im unabhängigen Litauen zwischen den beiden Weltkriegen gerne die Pruzzen, die Vorfahren der Litauer (oder doch schon gleich Litauer?) sehen. Die Ordensritter hatten jedenfalls noch einmal Glück gehabt… Quelle öffnen

Eigenartige, aber freundliche Leute

Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert lebte, erzählte in seiner Chronik die Geschichte der Bistümer Bremen und Hamburg, die damals das Anliegen verfolgten, den Norden Europas zu christianisieren. Dabei beschrieb er eine Vielzahl unterschiedlichster „heidnischer“ Bevölkerungsgruppen im Nord- und Ostseeraum. Im Rahmen eines solch groß angelegten regionalen Vergleichs erfuhren die Pruzzen eine recht freundliche Bewertung. Quelle öffnen

Einfach unverbesserlich

Peter von Dusburg war im 14. Jahrhundert gewissermaßen der Haus- und Hofhistoriker des Deutschen Ordens. Er versuchte mit seiner Chronik die Herrschaft des Ordens im „Pruzzenland“ zu rechtfertigen und dies beeinflusste erkennbar seine Darstellung der Pruzzen. Diese Leute mussten einfach christianisiert werden… Quelle öffnen

Eine friedliche Alternative?

Nur wenige Jahre, nachdem der Deutsche Orden ins Land gekommen war, schloss er unter päpstlicher Vermittlung mit den Pruzzen den Vertrag von Christburg 1249. Der Vertrag klang friedensbemüht, er sollte den Pruzzen Freiheit bringen, aber unter der Bedingung, dass sie christlich blieben, auch betraf er nur einige Teilethnien der Pruzzen. Das blutige Ringen zwischen Mission und Widerstand ging daher bald weiter. Quelle öffnen