Was sind Lebenswelten?
Lebenswelten ist ein Begriff, der von vielen Wissenschaften verwendet wird. Historiker verstehen darunter zumeist ein Konzept, das alle Bereiche menschlichen Lebens umfasst, und zwar sowohl sehr praktische Bereiche wie die Gestaltung des Alltags (z. B. Wohnen, Arbeiten, Ernährung, Sexualität oder Fortbewegung), als auch die abstrakteren Bereiche der Einstellungen, Normen, Werte, des Wissens oder der (Zukunfts-)Erwartungen. Um daraus aber nicht eine Ansammlung höchst unterschiedlicher Einzelfälle werden zu lassen, versuchen moderne historische Darstellungen, individuelle Aspekte mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen zu verknüpfen. Der einzelne Mensch tritt in Interaktion mit seiner Umgebung, und deswegen heißt der historische Untersuchungsgegenstand eben nicht einfach „Leben“, sondern „Lebens-Welten“.
Da das Konzept Lebenswelten so umfassend ist, würden sich in unserem Thema teilweise Überschneidungen mit anderen Themen wie „Männer und Frauen“ oder „Glaube“ ergeben. Deshalb soll hier der Schwerpunkt auf den Bereichen Wirtschaft/Arbeitsleben einerseits und Freizeit/Kultur andererseits liegen.
Lebenswelten im „Pruzzenland“ – (k)ein Klassiker
Es ist nicht, so, dass in Schulbüchern und Gesamtdarstellungen bislang nicht über Wirtschaft und Gesellschaft des „Pruzzenlandes“ berichtet worden wäre. Dabei dominierte allerdings die Geschichte des mittelalterlichen Deutschordensstaates und die weitgehend akzeptierte Annahme wirtschaftlicher Stärke. Demnach spielte der Deutsche Orden die führende Rolle bei der Erschließung des Landes, der Gründung von Städten und Dörfern, dem Bau prächtiger Burgen und auf dem enormen Aufschwung von Handel und Handwerk. Das Leben der Siedler auf dem Lande erschien vor allem in einer systematisch-strukturgeschichtlichen Sicht: mit dem Wirken von Lokatoren, den Regeln der Landvergabe oder den Verträgen zur Bewirtschaftung und Steuerbefreiung. Das liest sich mitunter etwas trocken. Für die jüngere Zeit gab es meist nur noch knappe Schlaglichter, etwa auf den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Elbinger Schichau-Werke, die erste elektrische Straßenbahn in Klaipėda oder Klein-Litauens gute Infrastruktur an Schulen, Druckereien, Pfarrhäusern und Lehrerseminaren, mitunter begleitet von idyllisierenden Abbildungen kurischer Fischerboote.
Das Thema „Lebenswelten“ kann mit seiner Quellen-Auswahl eine neue Sichtweise vorsichtig andeuten. Besonders interessant ist es, wenn Texte oder Bilder Situationen einfangen, die quer zu den gewohnten Strukturen und privilegierten Herrschaftsformen liegen, wenn Kontraste zwischen alltäglichem Leben und außergewöhnlichen Erfahrungen aufscheinen oder wenn bislang wenig beachtete Bevölkerungsgruppen wie etwa die Sinti im „Pruzzenland“ eine Stimme erhalten.