Wie lebten eigentlich die Menschen im „Pruzzenland“? Diese Frage ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. In Deutschland gibt es eine zahlreiche Erinnerungsliteratur, die das Bild einer versunkenen, vormodernen Welt von Gutshöfen, Bauern und einer weitgehend vorindustriellen Hauptstadt Königsberg zeichnet. In Polen gelten Ermland und Masuren als landschaftlich reizvolle Urlaubsgebiete, doch wie die Menschen außerhalb einiger weniger Sommerwochen leben, davon wird weit weniger erzählt. Als Standort von Industrie- und Hafenanlagen erscheint das „Pruzzenland“ dagegen in Russland und Litauen.

 

Was sind Lebenswelten?

Lebenswelten ist ein Begriff, der von vielen Wissenschaften verwendet wird. Historiker verstehen darunter zumeist ein Konzept, das alle Bereiche menschlichen Lebens umfasst, und zwar sowohl sehr praktische Bereiche wie die Gestaltung des Alltags (z. B. Wohnen, Arbeiten, Ernährung, Sexualität oder Fortbewegung), als auch die abstrakteren Bereiche der Einstellungen, Normen, Werte, des Wissens oder der (Zukunfts-)Erwartungen. Um daraus aber nicht eine Ansammlung höchst unterschiedlicher Einzelfälle werden zu lassen, versuchen moderne historische Darstellungen, individuelle Aspekte mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen zu verknüpfen. Der einzelne Mensch tritt in Interaktion mit seiner Umgebung, und deswegen heißt der historische Untersuchungsgegenstand eben nicht einfach „Leben“, sondern „Lebens-Welten“.

Da das Konzept Lebenswelten so umfassend ist, würden sich in unserem Thema teilweise Überschneidungen mit anderen Themen wie „Männer und Frauen“ oder „Glaube“ ergeben. Deshalb soll hier der Schwerpunkt auf den Bereichen Wirtschaft/Arbeitsleben einerseits und Freizeit/Kultur andererseits liegen.

Lebenswelten im „Pruzzenland“ – (k)ein Klassiker

Es ist nicht, so, dass in Schulbüchern und Gesamtdarstellungen bislang nicht über Wirtschaft und Gesellschaft des „Pruzzenlandes“ berichtet worden wäre. Dabei dominierte allerdings die Geschichte des mittelalterlichen Deutschordensstaates und die weitgehend akzeptierte Annahme wirtschaftlicher Stärke. Demnach spielte der Deutsche Orden die führende Rolle bei der Erschließung des Landes, der Gründung von Städten und Dörfern, dem Bau prächtiger Burgen und auf dem enormen Aufschwung von Handel und Handwerk. Das Leben der Siedler auf dem Lande erschien vor allem in einer systematisch-strukturgeschichtlichen Sicht: mit dem Wirken von Lokatoren,  den Regeln der Landvergabe oder den Verträgen zur Bewirtschaftung und Steuerbefreiung. Das liest sich mitunter etwas trocken. Für die jüngere Zeit gab es meist nur noch knappe Schlaglichter, etwa auf den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Elbinger Schichau-Werke, die erste elektrische Straßenbahn in Klaipėda oder Klein-Litauens gute Infrastruktur an Schulen, Druckereien, Pfarrhäusern und Lehrerseminaren, mitunter begleitet von idyllisierenden Abbildungen kurischer Fischerboote.

Das Thema „Lebenswelten“ kann mit seiner Quellen-Auswahl eine neue Sichtweise vorsichtig andeuten. Besonders interessant ist es, wenn Texte oder Bilder Situationen einfangen, die quer zu den gewohnten Strukturen und privilegierten Herrschaftsformen liegen, wenn Kontraste zwischen alltäglichem Leben und außergewöhnlichen Erfahrungen aufscheinen oder wenn bislang wenig beachtete Bevölkerungsgruppen wie etwa die Sinti im „Pruzzenland“ eine Stimme erhalten.

Sinti auf dem Pferdemarkt

Trakehner sind eine der bekanntesten Pferderassen aus dem „Pruzzenland“; weniger bekannt ist der Pferdemarkt von Wehlau, der einst einer der größten seiner Art in Europa war. An dem alljährlichen Trubel nahmen als Pferdehändler, Kirmesbudenbetreiber oder Wahrsagerinnen auch viele Sinti aus dem „Pruzzenland“ teil. Quelle öffnen

Auf Entzug

Gab es im „Pruzzenland“ ein größeres Problem mit dem Alkoholismus? Jedenfalls sah sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Landrat von Allenstein bemüßigt, den Gastwirten neue Regeln für den Getränkeausschank zu geben. Nachhaltigen Erfolg hatte er damit eher nicht, dafür schaffte er es in die Spalten der Berliner Satirezeitschrift „Kladderadatsch“, die ihm ein Gedicht widmete. Quelle öffnen

Nichts geht ohne Musik

Zur Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit der baltischen Länder 1990/91 führte kein Mauerfall, kein Runder Tisch, keine „samtene Revolution“, sondern die „singende Revolution“. Musik spielte aber schon viel früher eine herausragende Rolle für die Litauer, wie der Pfarrer Teodor Lepner im 17. Jahrhundert für das „Pruzzenland“ feststellte. Quelle öffnen