Ganz normale preußische Juden?
Der Beginn der jüdischen Einwanderung geht auf das 16. Jahrhundert zurück, als Herzog Albrecht von Hohenzollern zwei jüdische Ärzte nach Königsberg berief. Bis zur Anerkennung als Glaubensgemeinde und dem Bau einer ersten Synagoge sollte es allerdings noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dauern. Die meisten Juden lebten in den großen Küstenstädten Königsberg und Memel, zunehmend ließen sich Juden aber auch in den Kleinstädten und Dörfern des Binnenlandes nieder.
Da das „Pruzzenland“ über mehrere Jahrhunderte zum Königreich Preußen und später zum Deutschen Reich gehörte, liegt die Vermutung nahe, dass sich die Geschichte der Juden in diesen Ländern ganz ähnlich entwickelte oder dass zumindest preußische bzw. deutsche Entwicklungen maßgeblichen Einfluss hatten. Auf einer politisch-rechtlichen Ebene wären hier zunächst gesetzliche Privilegien zu nennen, die in der Frühen Neuzeit nur für wenige Juden galten, bevor dann die Emanzipation der Juden als Teil der preußischen Reformen im frühen 19. Jahrhundert breite Bevölkerungskreise erfasste. Die Geschichte der Juden war aber auch durch wichtige kulturelle und gesellschaftliche Ideen und Initiativen geprägt, etwa durch die Bewegung der jüdischen Aufklärung (Haskala) im 18. Jahrhundert. Seit dem 19. Jahrhundert erlebten viele Juden ein auch außerhalb ihrer Gemeinden sichtbares wirtschaftliches und gesellschaftliches Vorankommen, waren aber auch verstärkt mit Antisemitismus konfrontiert.
Was die Geschichte der Juden im „Pruzzenland“ gegenüber der preußischen bzw. deutschen Entwicklung hervorhob, war zum einen die herausgehobene Rolle der jüdischen Gemeinde Königsbergs als einer der größten preußischen Gemeinden, die zentrale Impulse für die Haskalah gab und dabei auch Ideen des Königsberger Philosophen Immanuel Kant aufnahm. Zum anderen war hier noch bis in das 20. Jahrhundert ein intensives Beziehungsgeflecht zwischen Angehörigen jüdischer Gemeinden in Preußen (Deutschland) und auf dem Gebiet der früheren polnisch-litauischen Adelsrepublik (das nun größtenteils zum russischen Zarenreich gehörte) zu beobachten. Im „Pruzzenland“ blieb bei vielen Juden die Mehrsprachigkeit länger ausgeprägt als bei ihren Glaubensgenossen im Deutschen Reich. Damit weist die Geschichte der Juden im „Pruzzenland“ über deutsche bzw. preußische Entwicklungen hinaus und lässt sich auch im regionalen Kontext des multi-ethnischen und multi-kulturellen östlichen Mitteleuropas begreifen.
Modernität und Tradition, Welterfahrung und Heimat
Trotz der vielen Kontakte über staatliche, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg ist die Geschichte der Juden im „Pruzzenland“ nach 1945 lange Zeit nur wenig beachtet worden. Dies betraf sowohl die historische Forschung als auch das öffentliche Erinnern in Ländern wie Polen, Russland, Litauen und Deutschland, zu denen das „Pruzzenland“ gehört bzw. früher gehörte, und Israel, wohin die meisten der Überlebenden des Holocaust migriert sind. Erst in den letzten Jahren hat eine Neuentdeckung der jüdischen Geschichte der Region eingesetzt.
Obwohl es also viel nachzuholen gilt, konzentrieren sich die jüngsten Forschungen zur jüdischen Geschichte des „Pruzzenlandes“ auf die Kontrastpaare Modernität und Tradition sowie Transnationalität und Heimat.
Ein anschauliches Beispiel für den Kontrast zwischen Modernität und Tradition ist das Werk des Architekten Erich Mendelsohn. Seine Bauten für die jüdischen Gemeinden in Tilsit und Königsberg, die in den 1920er Jahren entstanden sind, verbinden die zeitgenössische expressionistische Formensprache mit traditionellen religiösen Inhalten. Damit hatte auch das „Pruzzenland“ seinen Anteil an den Entwicklungen der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Und gerade solche architektonischen Werke wie diejenigen Mendelsohns machten nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa 1989/91 die Neuentdeckung und Pflege des kulturellen Erbes der Region so attraktiv. Ihre Renovierung ging jedenfalls auch dank großer Spendenbereitschaft rascher voran als etwa die Erhaltung kleiner ländlicher Synagogen und Friedhöfe.
Mendelsohn wirkte mit seinen Bauten für die jüdischen Gemeinden Tilsit und Königsberg zu einem Zeitpunkt im „Pruzzenland“, als er sich bereits international einen Namen als Architekt gemacht hatte. Kam hierin eine besondere Verbundenheit mit der Region seiner Kindheit, mit Heimat, zum Ausdruck? Für viele Juden jedenfalls war der Begriff Heimat umstandslos mit Mehrsprachigkeit und Welterfahrung, wie sie die jüdischen Gemeinden mit ihren zahlreichen Verbindungslinien in andere Länder Europas, Amerikas und des Nahen Ostens boten, vereinbar.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden unter der NS-Herrschaft bildete hier einen tiefen Einschnitt. Für die Überlebenden wurde auf drastische Weise deutlich, wie fragil, ja flüchtig ein räumlich gefasster Heimat-Begriff sein konnte. Dafür blieben, den vielfältigen Erschütterungen zum Trotz, die Netzwerke familiärer und freundschaftlicher Bindungen häufig zeitlebens eng geknüpft. Diese Beobachtung bietet eine gute Gelegenheit, über den Heimat-Begriff, der in der deutschen Wahrnehmung der ehemaligen deutschen Ostgebiete eine so zentrale Rolle spielt, neu nachzudenken.