Ungläubiges Entsetzen nach der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938: Die systematische Zerstörung von Synagogen und die Plünderung jüdischen Eigentums, bei der rund 400 Menschen ums Leben kamen, stellten eine neue Eskalationsstufe antisemitischer Gewalt im Deutschen Reich dar. Vom Geschehen in Königsberg berichtet der Journalist Ludwig Goldstein.

Dok. 128: Ludwig Goldstein berichtet über die Zerstörung der Synagoge in Königsberg i. Pr. Am 9. und 10. November 1938

Ich schlummerte in jener Nacht arglos meinem 71. Geburtstag entgegen. Bald nach dem Erwachen jedoch hörte ich von schweren Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte. […]

Binnen einer Viertelstunde fuhr ich nach der Vorstadt hinunter und gewann nur zu bald den Eindruck, dass  - auf Grund einer genauen Liste oder unter zuverlässiger Führung – so ziemlich jeder Laden, der einem Juden gehörte, Gegenstand von Angriffen geworden war. Die Türen waren er- oder zerbrochen, die Schaufenster eingeschlagen, die Auslagen auf den Bürgersteig, ja, bis auf den Fahrdamm geworfen, die Inneneinrichtung samt den Waren durchwühlt und vernichtet; hin und wieder sogar durch Feuer. Natürlich hatte man, wenn nicht beim Ueberfall, so doch später allerlei Kaperware mitgehen heissen. Trauringe, Schmuck, Uhren u. dergl. waren noch längere Zeit „unter der Hand“ billig zu haben, soweit es gewisse Leute nicht vorzogen, sie in ihren „Geheimtresor“ den Augen der Mitwelt zu entziehen.

Als ich die Köttelbrücke überschritt, fiel mein Blick zufällig auf die Kuppel der neuen Synagoge. Na nu?! Die sieht doch so sonderbar – so luftig aus! Und bei schärferem Hinblicken entdeckt man, dass nur noch das Eisengefüge steht. Werden dort etwa Ausbesserungsarbeiten durchgeführt? Aber davon hat man doch nichts gehört! Sollte etwa ---? Nein, das wäre doch nicht möglich! – Freilich, das Wörtchen „unmöglich“, so hat man öfters mit Stolz rühmen hören, existiert nicht im Wörterbuch des Nationalsozialismus.

Genug der Zweifel. Ich eile hin, und wahrhaftig: das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist es getan. Der 1894 – 96 errichtete Prachtbau liegt in Trümmern, soweit sich dies mit einer klüglich ausgelegten Feuersbrunst bei einem Steinhaus erreichen lässt. Die bis zu einer Höhe von 46 m aufsteigende Riesenkuppel lässt fünfzigfach den blauen Himmel hindurchblicken; nur die von Löwen gehaltenen steinernen Gesetzestafeln davor halten noch ihre gewohnte sinnbildliche Weltmacht.

Der Ansturm auf die Synagoge war nach gründlicher Vorbereitung auf 2 Uhr nachts angesetzt und sollte, hier wie anderswo, das Zeichen zur allgemeinen „Erhebung“ geben. Im Inneren war, wie man hörte, nach Möglichkeit alles zertrümmert. Wo die Bundeslade gestanden hat, war sogar mit Brecheisen gearbeitet worden, wahrscheinlich weil man hier „Schätze“ vermutet hatte. Die Bänke waren umgeworfen, die Thorarollen auf den Fussboden geschmettert. Die angerückte Feuerwehr wurde an jeder Löschhandlung gehindert und hatte lediglich darauf zu achten, dass den Nachbarhäusern kein Schad‘ geschieht. Während ein Brandkommando, mit besten Mitteln ausgerüstet, in das Gebäude eindrang, riegelte ein anderer teil der Abkommandierten den Schauplatz sorgsam ab, damit niemand die fröhliche Sonnwendfeier zu stören vermöchte. Sonst geschehen solche Absperrungen, damit ungehindert gelöscht, hier damit ungehindert angezündet werden konnte („Volkswut“).

Die anfangs erörterten Pläne, was sich am besten mit dem seiner Bestimmung so plötzlich entzogenen Gotteshaus anfangen liesse, kamen nicht zur Ausführung. Man entschloss sich einfach zum Abbruch. Am 26. VI. 39 boten Händler „1 000 000 tadellose Ziegel, eine sehr wertvolle Orgel, einen schwarzen Flügel u. v. a.“ zum Verkauf aus. Die mauern wiesen eine so ausserordentliche Festigkeit auf, dass es im Dezember 39 zahlreicher Sprengungen bedurfte, um sie umzulegen. Wo sie einst gestanden haben, soll in Zukunft ein Verbindungsgässchen laufen. In der Presse gab man der Genugtuung Ausdruck, dass „jetzt nichts mehr an den hässlichen Bau erinnere“.

Auch das angrenzende – von dem Berliner Baumeister Behrendt reizvoll entworfene – Israelitische Waisenhaus wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die dort untergebrachten kleinen Kinder wurden in tiefer Nacht durch eindringende banden und den von ihnen verursachten Lärm aus dem Schlaf gerissen und rasten nun, zu Tode erschreckt und mangelhaft bekleidet, ja ohne Schuhe und in blossen Hemdchen, auf die Strasse, bis sie bei ihnen bekannten jüdischen Frauen eine erste Notunterkunft fanden.

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Quelle: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Bd. 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, bearb. von Susanne Heim, München 2009.