Als im November 1830 Warschauer Bürger gegen die autokratische russische Zarenmacht aufbegehrten und neue Freiheiten für das seit 1795 von der politischen Landkarte Europas verschwundene Polen forderten, waren nicht nur die polnischen Landsleute wie elektrisiert, sondern auch deren Nachbarn. Die Einwohner des nur wenige Dutzend Kilometer nördlich von Warschau gelegenen „Pruzzenlandes“ verfolgten die Ereignisse aber mit sehr gemischten Gefühlen:

In der Zeit, als der Novemberaufstand im Warschau ausbrach, befand ich mich in Königsberg, gewissermaßen als Zwischenstation meiner Reise vom böhmischen Prag nach Vilnius. Die Zwischenstation war ein wenig lang geraten, nämlich schon einige Monate, aber dadurch hatte die Möglichkeit, mich mit den örtlichen Verhältnissen und den Einstellungen der dortigen Bevölkerung vertraut zu machen. Wie sehr verändert schienen mir nun sowohl die Stadt als auch ihre Einwohner, nachdem die Nachricht vom Ausbruch der Revolution in Warschau kam! Die Deutschen wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten und liefen von Haus zu Haus, um mehr Einzelheiten von diesem erstaunlichen Ereignissen in Erfahrung zu bringen: vom Aufstand des kleinen Polen gegen den großen und strengen Riesen, den russischen Zaren.

In Königsberg gab es in der Französischen Straße eine Konditorei, gegründet von einem Schweizer namens Siegel. Nicht nur, weil er ein wenig polnisch sprach, sondern auch aus geschäftlichem Interesse hielt er alle polnischen Tageszeiten aus Warschau und Vilnius vor. Und nur diesen polnischen Zeitungen, vor allem den Warschauern, konnte man die aktuellsten Meldungen zu diesem erstaunlichen Ereignis entnehmen, daher war die Konditorei mit Deutschen überfüllt, die drängend nach Neuigkeiten aus Warschau suchten. Herr Siegel war außer Stande, den Erwartungen seiner Kundschaft gerecht zu werden, die in diesen Tagen so stark angewachsen war, dass sie fast den hunderttausend Einwohnern der Stadt gleichkam. Daher wurden ich und mein Freund, Studienkollege und Reisegefährte Adam Poniatowski gebeten, dem Hausherrn zu Hilfe zu kommen. Weder ich noch mein Kollege konnten den Deutschen diese Gefälligkeit abschlagen, und so wurden wir unter großen Freudebekundungen zur Konditorei Siegel begleitet und auf erhöhten Sesseln platziert, um mit den Gästen ins Gespräch zu kommen.

Die Aufgabe, den Deutschen die polnischen Zeitungen zu übersetzen, erfüllten wir einige Tage lang, während die Erregung und Angst der Deutschen nicht nachließ. Angst? Warum? Mehrmals habe ich mir diese Frage gestellt und ich kann sie nicht anders beantworten als damit, dass unser Aufstand einen Krieg auslösen und so die Handelsinteressen der Deutschen beschädigen könnte. Einige gab es, die sich darüber freuten; aus Sympathie für uns? Keineswegs – sie zählten darauf, dass sie in den entstehenden Wirren, insbesondere an der russischen Grenze, leichter Schmuggel treiben und dadurch hohe Gewinne erzielen könnten. Es waren nur wenige, aber sie gab es auch, die uns alles Gute wünschten; ungleich größer war jedoch die Zahl derer, die uns traurige Konsequenzen voraussagten.

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Quelle: Zbigniew Fras und Norbert Kasparek (Hrsg.): Królewiec w oczach Polaków w XIX wieku [Rozprawy i Materiały OBN, Bd. 174], Olsztyn 1998, S. 75 – 76: Alojzy Ligęza Niewiarowicz: Noc listopadowa w Królewcu (1830).