Russisches Judentum, Ostjudentum – das war für viele Juden in Deutschland, in Mittel- oder Westeuropa eine ferne Welt. Aus der Sicht des „Pruzzenlandes“ sah dies ein wenig anders aus. Hier wirkte zum Beispiel im 19. Jahrhundert der Rabbi Jsrael Lipkin, der 1810, wie sein Biograph schreibt, „zu Sagaren in der Provinz Samogitien in Russland“ (heute: in Litauen) schon als Sohn eines Rabbis geboren wurde.

In der That hatte Rabbi Lipkin niemals ein bestimmtes Amt bekleidet noch jemals einen festen und beständigen Wohnsitz inne gehabt. Sein Leben und Wirken war nie an eine bestimmte Scholle gebunden oder auf einen bestimmten Wirkungskreis beschränkt gewesen. Sein ganzes Leben war dem „Wohle der Gesamtheit“ geweiht und in diesen Dienst der Gesamtheit hatte er sich mit seiner ganzen Person gestellt.

Diese seine „weltumfassende“ Wirksamkeit war die Ursache, dass er seinen Wohnsitz oft wechselte und nicht selten auch weite Reisen unternahm. Neben seinem Geburtslande Russland hatte er das Nachbarland Deutschland zu seinem Aufenthalte erwählt. Wiederholt hatte er sich in Königsberg und Memel aufgehalten. In Königsberg finden wir ihn schon im Jahre 1858 an der Seite des berühmten Rabbiners Rabbi Jakob Hirsch Mecklenburg, für die Sache des überlieferten Judentums wirkend. Daselbst lies er sich besonders die akademische Jugend angelegen sein. Man erzählt, wie sich die jüdischen Hörer der Königsberger Universität (Albertina) allabendlich in seiner Wohnung um ihn zu versammeln pflegten, um seinen „Bibelerklärungen“ und „Talmudvorträgen“ zu lauschen.

Am liebsten und längsten hatte er sich in Memel aufgehalten und daselbst einen grossen Theil seiner Lebenszeit zugebracht, wenn auch mit wiederholten Unterbrechungen. In dieser Grenzstadt Memel fand er viele seiner ehemaligen Landsleute, die ihn in seinen Unternehmungen mit Rat und That freudig unterstützten. Mit besonderer Anerkennung verdienen folgende zwei Männer hier genannt zu werden, der Kaufman Benjamin Hanemann und der nun verewigte Kaufmann Elias Behr Fischel, deren langjähriger Hausgenosse und Hausfreund Rabbi Lipkin gewesen ist.

In dem Hause des Erstgenannten hatte Rabbi Lipkin sogar ein eigenes Betlokal eingerichtet gehabt, welches von Hoch und Niedrig besucht wurde und in welchem er sehr oft Lehr- und Erbauungsvorträge zu halten pflegte.

In Memel hatte er sich auch in den preussischen Unterthanenverband aufnehmen (naturalisieren) lasen, um desto freier und ungehinderter seine auf das Wohl der Gesamtheit gerichtete Thätigkeit fortsetzen zu können. Hier begann er auch mit der Herausgabe einer hebräischen Wochenschrift „Hat’wuno“ oder „Die Vernunft“, welche Schrift teils in Memel, teils in Königsberg gedruckt erschien.

Hier in Memel legte er gleichfalls den Grund zu manchen guten Veranstaltungen, deren die Memeler Judenschaft sich heute noch erfreut. […]

Im Jahre 1875 hatte Rabbi Lipkin die grosse Freude, den Bau des neuen grossen Bet- und Lehrhauses in Memel seiner Vollendung entgegengehen zu sehen. Auch hier hatte er seinen Einfluss geltend gemacht, dass in unmittelbarer Verbindung mit diesem Lehrhause auch noch eine „Stube“ errichtet werde, worin die armen Lernbeflissenen nötigenfalls ein nächtliches Unterkommen fänden.

Zur Einweihung dieses herrlichen Gotteshauses waren ausser mehreren hervorragenden Rabbinen aus den angrenzenden russischen Ortschaften auch der hochberühmte Rabbiner Meier Leibusch Malbim aus Königsberg geladen. […]

Rabbi Lipkin galt aber nicht nur in Russland und Deutschland als erste Autorität, sondern hatte als solche geradezu einen Weltruf. So kam es, dass von Nah und Fern allerlei Anfragen an ihn gelangten und er von den verschiedensten Seiten um Rat und Beistand angegangen wurde. Noch kurz vor seinem Tode wurde er von Memel aus nach Paris berufen, um dort einer gesetzestreuen Genossenschaft, die sich zu einer Gemeinde verbunden hatte, als Berater und Lehrer zur Seite zu stehen. Bereitwilligt folgte er diesem Rufe und mit dem Mute eines Jünglings unternahm der im hohen Greisenalter stehende Lipkin im Winter des Jahres 1880 diese weite und beschwerliche Reise ohne jegliche Begleitung. […]

Im Sommer des Jahres 1882 kehrte Rabbi Lipkin von Paris nach Deutschland zurück und liess sich in Königsberg nieder, um daselbst nach seines Freundes Malbim Tode in der dortigen orthodoxen Gemeinde zu wirken. Doch sollte seine Wirksamkeit daselbst nicht lange währen. Schon nach mehreren Monaten seines dasigen Aufenthaltes setzte der Tod seinem rastlosen Streben und Wirken ein Ende. Nach nur dreitägiger Krankheit hauchte er in der Nacht zum 25. Schewat 5643 (1883) seine reine Seele aus.

In einem engen und höchst dürftigen Häuschen war er entschlafen in Königsberg in Preussen, als sollte diese Grenzstadt russischen und deutschen Gebietes sein Denken und Streben sinnbildlich wiederspiegeln, welches darauf gerichtet war, die Kluft zu überbrücken, welche in Sachen des überlieferten Judentums zwischen diesen beiden Nachbarländern herrschte.

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Quelle: Emil Benjamin: Rabbi Jsrael Lipkin Salant. Sein Leben und Wirken, Berlin 1899, S. 16 – 20.