Reichspogromnacht und NS-Verfolgung erlebten die Juden im litauisch regierten Memelland bislang nur aus der Ferne. Ende 1938 aber nahm die Furcht vor einem Anschluss des Gebiets an das Deutsche Reich schon überaus konkrete Gestalt an und viele Juden bereiteten sich auf die Emigration vor. Berichterstatter des Deutschen Generalkonsulats in Memel mussten dabei einräumen, dass mit der Emigration der Juden das wirtschaftliche Leben im Memelland in eine schwere Krise geriet.

Dok. 191: Das Deutsche Generalkonsulat berichtet am 2. Dezember 1938 über die Flucht der Juden aus dem Memelgebiet und die wirtschaftlichen Auswirkungen

Inhalt: Judenflucht aus dem Memelgebiet und ihre Rückwirkung auf das memelländische Wirtschaftsleben.

Seit der Sudetenkrise hat sich unter den Juden im Memelgebiet eine verstärkte Beunruhigung bemerkbar gemacht. Die ersten Anzeichen hierfür waren, daß die Memeler jüdischen Großkaufleute Hafttal und Eilberg im Laufe des Septembers ihre wertvollen Holzplätze zum Verkauf anboten. Die Unruhe unter der Judenschaft nahm wesentlich zu, als der Kriegszustand aufgehoben wurde, und steigerte sich in den letzten Wochen derartig, daß von einer Judenflucht aus dem Memelgebiet gesprochen werden muß.

In der Überzeugung, daß der Anschluß des Memelgebiets an das Deutsche Reich sofort nach den Landtagswahlen stattfinden wird, hoben die Juden nicht nur ihre sämtlichen Bankeinlagen ab, sie verschleudern auch ihren Grundbesitz und versuchen, durch rigorose Ausverkäufe ihre Warenvorräte in Bargeld umzusetzen. Die Ausverkäufe haben bereits einen derartigen Umfang angenommen, daß sich das Direktorium des Memelgebiets gezwungen gesehen hat, zur Vermeidung von Störungen des Wirtschaftslebens eine Polizeiverordnung zu erlassen, wonach sämtliche Ausverkäufe bis auf weiteres verboten werden.

Sosehr die Memelländer den Auszug der Juden aus dem Memelgebiet begrüßen, so schwere Rückwirkungen hat er andererseits auf das memelländische Wirtschaftsleben: Nach den Schätzungen hiesiger Bankfachleute haben die Juden in den letzten 6 Wochen etwa 10 Millionen Lt. (=Lita, litauische Währung 1922 – 1940), Bankeinlagen abgehoben. Die Schließung von Fabriken und Geschäften hat zur Folge, daß eine große Anzahl memelländischer Arbeiter und Angestellter entlassen werden, so daß die Stadt Memel mit einer größeren Arbeitslosenziffer rechnen muß. Auf dem Wohnungsmarkt herrscht ein Überangebot von Wohnungen. Während noch vor wenigen Wochen ein ausgesprochener Wohnungsmangel bestand, stehen gegenwärtig mehrere 100 Wohnungen leer und werden zur Zeit Neubauten nicht zu Ende geführt. Hierzu kommt, daß zur Zeit sowohl ausländische wie großlitauische Lieferanten nach dem Memelgebiet keine Warenkredite mehr geben. Es sind sogar Fälle vorgekommen, wo Warensendungen aus England, die gegen Dreimonats-Akzept verkauft waren, nach Ankunft in Memel seitens der englischen Verkäufer angehalten und Barzahlung verlangt wurde. In Fällen, wo die Barzahlung nicht geleistet werden konnte, wurden die Waren nach England zurückbeordert.

Diese Störung des memelländischen Wirtschaftslebens wird dadurch verstärkt, daß die Memelländer in großem Umfang ihre Bareinlagen bei der Städtischen Sparkasse und der Memeler Bank abheben, um von den Juden zu billigen Preisen Grundstücke zu kaufen oder bei den Ausverkäufen Waren zu hamstern. So sind bei den beiden genannten Bankinstituten im Laufe der letzten 4 Wochen etwa 7 Millionen Lt. Abgehoben worden.

UM ihren Auszahlungsverpflichtungen nachzukommen, war die Städtische Sparkasse gezwungen, ein Guthaben bei der hiesigen Emissionsbank in Höhe von 3,5 Millionen Lt. In Anspruch zu nehmen. […]

Die voraussichtlich sich fortsetzende Abwanderung der Juden mit ihrem gesamten Vermögen, die Weigerung der litauischen Staatsbank, helfend einzugreifen, der bevorstehende Jahres-Ultimo, der an die Memeler Banken in diesem Monat besonders hohe Anforderungen stelle, sowie die Tatsache, daß vom Auslande und Großlitauen dem Memelgebiet keine Warenkredite mehr gegeben werden, müßten eine katastrophale Auswirkung haben, wenn nicht umgehend geholfen werde.

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Quelle: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Bd. 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, bearb. von Susanne Heim, München 2009.