Trakehner sind eine der bekanntesten Pferderassen aus dem „Pruzzenland“; weniger bekannt ist der Pferdemarkt von Wehlau, der einst einer der größten seiner Art in Europa war. An dem alljährlichen Trubel nahmen als Pferdehändler, Kirmesbudenbetreiber oder Wahrsagerinnen auch viele Sinti aus dem „Pruzzenland“ teil.

Meine Familie – typische ostpreußische Sinti

Matheningken, Ostpreußen, Anfang 1923: ein kleiner, beschaulicher Ort – um die 250 Seelen – am östlichen Rand des Deutschen Reiches. Die Mehrheit der Einwohner ist in der Landwirtschaft tätig. Die nächste größere Stadt, Insterburg, liegt 14 Kilometer entfernt. Zu dieser Jahreszeit nur mit dem Pferdeschlitten zu erreichen. Schnee und Kälte werden noch Monate andauern. Die Winter in dieser Gegen sind lang und kalt, erst im Mai hält langsam der Frühling Einzug. Auf einem der etwa 20 Gehöfte Matheningkens leben Reinhard Habedank und seine Frau Florentine Florian mit ihren Kindern, vier Mädchen. Die meisten Mitglieder der Familie Habedank-Florian sehen anders aus als ihre Nachbarn. Leute wie sie nennt man allgemein „Zigeuner“. Untereinander sagen sie Sinti. Im Dorf sind sie zwar die einzigen, in Ostpreußen sind „Zigeuner“ jedoch keine Seltenheit. Viele von ihnen leben seit Generationen als Sesshafte hier und haben als Pferdehändler ihr Auskommen. […]

Reinhard Habedank, mein Vater, geboren am 9. März 1896 in Puskeppeln, ist wie zahlreiche Sinti im Pferdehandel tätig. Pferde sind in unserer Kultur heilige Tiere. Er betreibt sein Gewerbe mit einigem Erfolg. Die Familie hat keine größeren wirtschaftlichen Sorgen. Die erfolgreichste Zeit sind die Jahre 1934 bis 1937, unmittelbar bevor Vater gezwungen ist, den Pferdehandel aufzugeben. In diesen Jahren besitzt er bis zu 20 Pferde. Dort, wo wir wohnen, kann er die Tiere nicht mehr unterbringen, es sind zu viele. 1935 pachtet er daher die Stallplätze in Georgenburg, einem Vorort von Insterburg. Dort füttert er die Pferde nicht nur wie bisher für den Weiterverkauf an, es werden sogar einige Fohlen geboren. Da er die Arbeit alleine nicht mehr schafft, hat er zur Unterstützung bei der Versorgung der Tiere einen Knecht eingestellt. Als Händler ist mein Vater häufig auf Reisen.

Pferdemarkt in Wehlau

Eines der Ziele seiner Fahrten ist Wehlau. Dort findet einer der größten Pferdemärkte Europas statt. Der ist einmalig. Für meinen Vater ist das immer der Höhepunkt des Jahres, dort macht er den Hauptumsatz, einen Großteil seines Jahresverdienstes. Auf dem Wehlauer Pferdemarkt herrscht ein lautes, geschäftiges Treiben. Händler und Käufer kommen von nah und fern. Zum Handel gehören feste Regeln und natürlich immer ein bisschen Theater. Das läuft ungefähr so ab: der kaufwillige Bauer schaut dem Tier, für das er sich interessiert, prüfend und eingehend ins Maul. Das Gebiss wird inspiziert. Auf keinen Fall soll mein Vater merken, wie sehr der Bauer genau dieses Pferd haben will. Das verdirbt den Preis. Dann spaziert er mehrerer Male um das Tier herum und mustert es von allen Seiten. Erst dann wendet er sich an meinen Vater: „Sieht ja ganz gut aus, der Gaul. Was soll er den kosten?“ „Na, ich dachte an so und so viel Reichsmark.“ „Ach du liebes bissel – nein! Das ist zu teuer.“ „Nun ja, ausnahmsweise, weil du es bist… ich mache dir ein Angebot: so und so viel Reichsmark…“ „Na, das ist aber immer noch ein ziemlich stolzer Preis! Fünfzig weniger!“ „Und Magrietsch!“ „Einverstanden!“ Ein Handschlag besiegelt das Geschäft. Der Handschlag ist auf dem Pferdemarkt genauso viel wert wie anderswo ein Kaufvertrag. „Magrietsch“ – so nennt man einen gemeinsamen Schnaps auf Kosten des Käufers im Anschluss an die Einigung. Der Schnaps macht den Handel gewissermaßen rechtsgültig. So ein Geschäft geht nicht unbedingt schnell vor sich, oft wird stundenlang um ein Pferd gerungen und gefeilscht.

Das Marktgeschehen dauert drei Tage und findet auf den Schanzenwiesen statt, einer riesigen Freifläche vor den Toren der Stadt. Am Rande und bis weit in die Straßen der Stadt hinein haben Schausteller, Gastwirte und Händler ihre Buden und Zelte aufgestellt. Dort herrscht ein gut organisiertes Chaos. Ohne besondere Aufsicht regelt sich alles nach einer Art geheimer innerer Logik. 1937, als mein Vater zum letzten Mal am Pferdemarkt teilnimmt, sollen dort weit über 10.000 Pferde registriert gewesen sin. Hinzu kommen noch einige Tausend Rinder. Bei den Pferden handelt es sich vor allem um Tiere, die in der Landwirtschaft einsetzbar sind. Reit- und Kutschpferde Trakehner Abstammung sind hier wenig gefragt, Arbeitspferde dagegen umso mehr. Besonderes Interesse finden vielfach die zähen, kleinen Ackergäule, Bauernpferde ohne Stammbaum, die sich ausgezeichnet als Zugpferde eignen. Daher besuchen meist Kunden aus der Mittelklasse den Markt. Teure Luxuspferde kauft man normalerweise in Königsberg. Ein großer Teil der Pferde bleibt auch nach dem Verkauf in Ostpreußen, das mit seiner starken Landwirtschaft traditionell ein pferdereiches Land ist. Viele werden aber auch ins Reich, wie wir damals sagten, und ins Ausland verkauft. Zu den besten Zeiten des Wehlauer Marktes soll es vorgekommen sein, dass täglich bis zu 100 Waggons mit Pferden für den Abtransport nach Westen abgefertigt wurden. Acht Pferde gehen in einen Waggon. Mein Vater erzählt, vor 1914 seien viele der zum Kauf angebotenen Pferde aus Russland gewesen, nach dem Ersten Weltkrieg kamen mehr aus Polen. Die Käufer sind nicht nur aus Ost- und Westpreußen angereist, sondern auch aus dem westlichen Reich und aus dem Ausland, zum Beispiel aus Dänemark, Schweden, Finnland, Österreich, Serbien. Pferdemarkt – heute, im Zeitalter der Motorisierung, kann man sich kaum noch vorstellen, wie das damals war. Schon wochenlang vorher setzen die Vorbereitungen ein. Die Stadt profitiert von der Erhebung der Standgebühren, die Wehlauer Kaufleute und Schankwirte verdienen ebenfalls ordentlich, und selbst die Bürger erwerben durch die Vermietung von Privatquartieren ein kleines Zusatzeinkommen. Der Markt ist ein wichtiger Wirtschaftsmotor für Wehlau. Die Pferde werden für den Transport hintereinander gebunden, immer eins an den Schweif des Vorderen. Oder man bindet die für den Kauf vorgesehenen Tiere hinten an den Kutschwagen an. Wie gesagt, kommen manche Händler von weit her, die meisten jedoch aus der Provinz Ostpreußen. Nach und nach füllen sich alle Ausspannmöglichkeiten, bis auch das letzte Plätzchen belegt ist. Viele Besitzer haben ihre älteste, noch unverheiratete Tochter dabei. Während der Markttage bieten sich gute Heiratschancen. Unter den Händlern gibt es etliche Juden. Dazu die „Zigeuner“, die aus allen Himmelsrichtungen zusammengeströmt sind. Manche haben ihre Frauen bei sich, die als Wahrsagerinnen tätig sind. Viele Marktgänger finden es aufregend, sich von so einer exotischen Schönen aus der Hand lesen zu lassen. […]

Bis ins Jahr 1937 sind die Sinti fester Bestandteil des Marktes. Auch auf den Märkten von Tapiau und anderer Städte bietet mein Vater seine Pferde zum Kauf an. Soviel ich weiß, war es nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ende Ostpreußens auch mit den Pferdemärkten vorbei. Die Russen, die jetzt dort sind, haben diese Tradition nicht weiter fortgesetzt.

Aktiv werden


Quelle: Reinhard Florian: Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen! Das Überleben eines deutschen Sinto, hrsg. von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin 2012.