In den Dimensionen nicht ganz so groß wie Hamburg, die Schwester an der Elbe, so bietet Memel doch das Ambiente einer typischen Hafenstadt: mit einer Amüsiermeile für die Seeleute, Verdienstmöglichkeiten für die Bauerntöchter aus dem Hinterland und Polizisten, die immer wieder einmal durchzugreifen versuchen…

Was die Sittlichkeitsverhältnisse der unteren Klassen betrifft, so sind ausser Diebstählen besonders die Vergehungen gegen sittenpolizeiliche Vorschriften und die Trunkenheitsfälle zu erwähnen. Dr. Friedrich Julius Morgen erwähnt in seinem Buche „Beiträge zu einer medicinischen Topographie des Kreises und der Stadt Memel“ (Memel 1843), dass 1830 die Zahl der für die fremden Seeleute eingerichteten Bordelle noch acht mit 78 Mädchen betragen habe, 1842 aber auf drei mit 30 Mädchen reducirt sei. „Um so grösser ist jedoch“, fährt er fort, „die Anzahl feiler Lustdirnen in der Stadt geworden.“ So blieben die Verhältnisse sehr lange, unterstützt durch heimliche Absteigequartiere, durch als Kneipen maskirte Bordelle, durch die Tanzhäuser und die Tingel-Tangel, deren es 1872 vier gab. 1868 wurden wöchentlich 8 bis 10, ja, während des Jahrmarktes 20 Mädchen verhaftet, 1882/83 fanden wegen Uebertretung sittenpolizeilicher Vorschriften 215, 1884 bis 1885 119, 1885/86 105 Verhaftungen statt. Seitdem ist die Zahl derselben ständig gesunken und betrug 1898/99 nur noch 12, 1899/1900 nur noch 10. Die Schifffahrt hat abgenommen, die Seeleute bleiben jetzt mit den Dampfern nur wenige Tage hier, und die Gelegenheit zu Extravaganzen hat sich somit verringert. Auch gehen jetzt sehr viele Mädchen der unteren Stände nach den Westprovinzen in Fabriken.

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Quelle: Johannes Sembritzki: Memel im neunzehnten Jahrhundert. Festschrift zum 650jährigen Jubiläum der Stadt Memel, 1. August 1902, Memel 1902, S. 121.