Litauen ist am Ende der 1980er Jahre noch eine Teilrepublik der Sowjetunion, steht aber schon im Zeichen von Öffnung und bürgerlichem Engagement: Ein junger litauischer Redakteur berichtet von gemeinsamen deutsch-litauischen Bemühungen um ein prominentes Denkmal – für Ännchen von Tharau, eine Balladenfigur des 17. Jahrhunderts.

Die Redaktion ist eine Einrichtung, die jedem Besucher offensteht. Einige, die andernorts kein Gehör finden, hoffen, daß sie wenigstens von den Journalisten verstanden werden. Andere Besucher erörtern Vorschläge mit der Bitte um Veröffentlichung. Sehr häufig musste man etwas riskieren und Ärger mit der Zensur, d. h. mit den Apparatschiks der herrschenden Partei, in Kauf nehmen. Aber bereut hat man es nie, auch wenn sich hinterher oft herausstellte, daß es sich einfach um eine Zeitungsente handelte. Aber einmal, das muß ich zu meiner Schande gestehen, habe ich einen Menschen hintergangen, und deshalb bitte ich ihn an dieser Stelle um Entschuldigung – ich habe es seitdem oft bereut. Dieser Mann breitete vor mir auf dem Schreibtisch alte Postkarten mit Ansichten des Klaipėdaer (Memeler) Schauspielhauses aus, u. a. mit dem mir bis dahin unbekannten Denkmal. Der Gast erklärte, daß es sich um ein Denkmal für einen deutschen Dichter handelt und bat um Veröffentlichung dieser Ansichten in der Zeitung. „Man muß das Denkmal wieder aufbauen“, argumentierte der Mann. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch ein Neuling in dieser Stadt, und über den Dichter und sein Denkmal hörte ich damals zum ersten Mal.

Der offizielle sowjetische Propagandaapparat versuchte jahrzehntelang, die Spuren der deutschen Kultur nicht nur vergessen zu machen, sondern gänzlich aus dem Gedächtnis zu löschen.

Und obwohl mir die Postkarten gefielen, mußte ich dem Gast traurig zu verstehen geben: „Man wird uns nicht verstehen und sagen, daß wir den deutschen Revanchismus unterstützen und ihm das Wort reden. […]“

Gleich danach begann ich es zu bereuen, das Material nicht publiziert zu haben, denn beim Durchblättern der gebundenen Exemplare der Zeitung „Tarybinė Klaipėda“ („Sowjetisches Klaipėda“) fand ich unter dem Jahr 1976 einen Artikel des Übersetzers und Schriftstellers Vladas Nausėdas unter dem Titel: „Kur Taravos Onutės skulptūra?“ („Wo ist die Ännchen von Tharau-Statue?“)

Das bedeutete, daß die Idee gar nicht so neu war, sondern sie wurde nur wieder vergessen und nichts bewegte sich. Alles blieb so wie es war. […]

Aber das Leben ist ja auch deshalb lebenswert, weil wir die Chance haben, aus Fehler zu lernen.

Der Frühling des Jahres 1988 bescherte uns einen wunderbaren Wonnemonat Mai. Der erste Streik im Klaipėdaer Busdepot brachte endlich Bewegung in die Zeit der politischen Stagnation.

Die Stunden um die Zeit des Sonnenuntergangs verbrachten wir in einer angenehmen Gesellschaft – wir feierten den Geburtstag einer Kollegin. Nur der Architekt, unser Gastgeber Saulius Manomaitis, war nachdenklich gestimmt, denn man restaurierte nach seinen Entwürfen und Vorstellungen gerade das Klaipėdaer Schauspielhaus und verwirklichte einen Anbau. Aber die Bauleute, ach diese Bauleute… Wenn sie dann mal alle anwesend waren, dann fehlte es an Baustoffen, oder umgekehrt. Sich auf diese Weise beklagend begann der Baumeister den Grundriß des Theaterplatzes zu skizzieren, wobei er wieder die Statue des Ännchen von Tharau herbeisehnte. „Wie schön wäre es doch, wenn sie mal wieder hier stehen könnte wie vor dem Krieg: bescheiden und einfach, statt des geplanten grandiosen Obelisken, der die Weitläufigkeit des Platzes und das ganze architektonische Ensemble völlig zerstören würde. Dann würde auch das Schauspielhaus so aussehen, wie es aussehen sollte…“ Man sagt, daß ein Deutscher vorschlug, das Ännchen wiederaufzubauen. Zur Zeit ist er gerade in Klaipėda, aber die Bereitschaft vieler, sich mit ihm zu treffen, ist sehr gering. Man kann das verstehen, er kam ja aus dem Westen und das Denkmal „ist auch für einen Deutschen“… „Saulius, wenn sich der Gast an Dich wenden wird, schicke ihn zu mir in die Redaktion. Vielleicht gelingt es und, das ganze einen Schritt voranzubringen.“ […]

Ein grauhaariger Mann mit jugendlichem Charme und Lächeln betrat unsere Redaktionsräume. Er sprach russisch mit Akzent und reichte mir seine Visitenkarte. HEINZ RADZIWILL, Offenburg. Ich habe verstanden, daß er derselbe westdeutsche Tourist war, über den wir bereits sprachen. Das bestätigte auch die nette Dolmetscherin Laima Laurinavičienė. (Die Reisebegleiterin und Dolmetscherin verdient ein großes Lob, denn sie trug viel dazu bei, daß sich das litauischen und das deutsche Volk näherkamen).

Wir begannen uns zu unterhalten. Es stellte sich dabei heraus, daß Heinz Radziwills Ureltern Anhänger der Reformation in Litauen waren und aufgrund des Drucks aus den Reihen der Katholiken nach Ostpreußen auswanderten. Radziwills Eltern lebten bis zum 2. Weltkrieg in Ragnit und Tilsit und sprachen auch litauisch. Die Radzwills hatten sechs Kinder, wovon die älteste Tochter zeitweise in Klaipėda lebte; deshalb kam Heinz manchmal hierher zu ihr zu Besuch.

Die Radziwill-Familie war bei der Bahn beschäftigt, deshalb zogen sie oft von einem Ort zum anderen. Eine harte Zeit begann für Heinz, wie auch für andere Menschen, mit dem Beginn des 2. Weltkrieges.

Aufgrund der Mobilmachung der deutschen Wehrmacht marschierte er durch ganz Europa, schließlich wurde er in Kursche durch die Rote Armee gefangengenommen.

Bis zum Jahre 1950 holzte er zusammen mit anderen Kriegsgefangenen in Karelien Wälder ab, war bei Wohnungsbau in Leningrad (jetzt St. Petersburg) eingesetzt worden. Der Krieg zerstörte seine Jugend.

Nachdem er in die Bundesrepublik kam, wurde er in einer internationalen Baufirma tätig. Mit verschiedenen Aufgaben durch die Firma betraut, bereiste er fast die ganze Welt.

Diese Geschichte rang mir nur Bewunderung ab.

„Im September 1987“, so erzählte Heinz Radziwill, „betreute ich eine Reisegruppe, die Klaipėda besuchte. Viele von uns sahen damals die Stadt nach 40 und mehr Jahren das erste Mal wieder. Das Stadtbild machte einen großen Eindruck auf uns, weil wir nicht geglaubt haben, die Stadt auf diese Weise wiederaufgebaut zu sehen, viel größer als vorher und wirtschaftlich florierend.

Die Restaurierung der Altstadt und des Schauspielhauses hatte uns positiv beeindruckt. Viele erinnerten sich daran, daß vor dem Schauspielhaus ein Simon Dach-Denkmal stand, d. h. ein Springbrunnen mit der Ännchen von Tharau-Statue. Diese Statue war damals zum Wahrzeichen der Stadt Klaipėda (Memel) geworden. „Ännchen von Tharau“ ist ein Liebeslied von Simon Dach. Dieses Lied habe ich in beiden Teilen Deutschlands, in Österreich und der Schweiz singen gehört, man findet es als Volkslied in deutschen Liederbüchern. Die ehemaligen Memeler, viele andere Westdeutsche und Menschen aus anderen Ländern würden es gerne sehen, wenn dieses Denkmal wiederaufgebaut würde“.

„Herr Radzwill, ich habe schon viel gehört und gelesen über das Ännchen von Tharau, ich sah Bilder von der damaligen Statue“.

„Mit Hilfe von Spendengeldern sollten wir diese Statue wiederaufbauen. Wir könnten alle damit verbundenen Ausgaben in ausländischer Währung bestreiten, als praktisches Zeichen für Völkerverständigung. Stellen wir uns das einmal vor: die Wiedereröffnung des restaurierten Schauspielhauses und die Einweihung des Denkmals! Das wäre nicht nur ein regionales, sondern ein internationales Ereignis. Die wiederaufgebaute Statue, das alte Wahrzeichen der Stadt, wäre ein Besuchermagnet. […] Es wäre eine gute Werbung für das Land, denn viele Menschen im Westen wissen gar nicht, daß es Litauen überhaupt gibt. Viele Passanten auf den deutschen Straßen würden, nach Klaipėda oder Memel gefragt, nur mit den Schultern zucken. Das trifft besonders für die Jugend zu. Die wiederaufgebaute Statue würde den Ruf Klaipėdas und Litauens in ganz Europa verbreiten!“ […]

Am 25. Mai 1988 wurde das brisante Material in der damaligen Zeitung „Tarybinėe Klaipėda“ veröffentlicht […] Vielleicht hätte das Interview alleine nicht so viel Interesse geweckt, wenn das Ganze nicht durch alte Photos der Statue aus Archiven und einen Artikel des bekannten Klaipėdaer Historikers Jonas Tatoris über den Dichter Simon Dachuntermauert worden wäre. […]

Die Zeitungsveröffentlichung blieb nicht ohne Echo. Die Redaktion bekam viele Briefe, es meldeten sich Bildhauer, Architekten, Künstler, Philosophen, Lehrer, Historiker, Schüler und sogar Putzfrauen. […]

In einem Leserbrief schlug Irena Kuzminskienė vor, sich bei Heinz Radziwill für seinen Vorschlag zu bedanken, jedoch das Denkmal in eigener Regie wiederaufzubauen, wie es beim ersten Mal der Fall war.

Die Leserin Marijona Mataitienė erinnert sich an das Denkmal aus ihrer Kinderzeit: „Jedes Mal, wenn ich den Theaterplatz überquere, sehe ich den Springbrunnen und die bescheidene Mädchen-Statue in meiner Phantasie.“ Sie zweifelte nicht an der Verwirklichung des Vorschlags von Heinz Radziwill.

Bei den zahlreichen Zuschriften gab es niemanden, der am Wiederaufbau des Denkmals zweifelte. Auf solche Weise könnte man das, was man der populären Klaipėdaer Persönlichkeit im Krieg angetan hat, wieder gutmachen. […]

Die damalige Stadtexekutive vereinbarte, nachdem sie vom Enthusiasmus der Klaipėdaer überrascht worden war, mit dem Initiator des Wiederaufbaus des Denkmals, H. Radziwill, daß sich die deutsche Seite um die Statue und die Gedenktafel für Simon Dach kümmern wird und Klaipėda für den Springbrunnen verantwortlich zeichnen wird.

Am 18. November 1989 konnte das Denkmal eingeweiht werden.

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Quelle: Antanas Stanevičius: Rätselraten um Ännchen von Tharau, Klaipėda 1992, S. 17 – 44.